Wähler mit »unerwartet gutem Gedächtnis«
In Hamburg profitierten auch zwei LINKE auf aussichtslosen Listenplätzen vom Wahlrecht
Das 2009 eingeführte neue Wahlrecht hat den 1,26 Millionen wahlberechtigten Hamburgern die Möglichkeit eröffnet, sich über den Willen der favorisierten Partei hinweg- und eigene Akzente zu setzen. Durch personenbezogene Stimmenabgabe konnten Kandidaten von scheinbar aussichtslosen hinteren Rängen der Landeslisten nach vorn gewählt werden – und umgekehrt.
Cansu Özdemir und Heike Sudmann heißen die – zumindest kleinen – Überraschungen für die LINKE. Özedemir war von der Delegiertenversammlung im Januar auf Landeslistenplatz neun gewählt worden. Bei den acht errungenen Mandaten für die LINKE in der Bürgerschaft wäre sie draußen geblieben. Mit 9745 erhielt sie dann aber hinter Spitzenkandidatin Dora Heyenn (24 974) Stimmen das zweitbeste Ergebnis. Einen Sprung nach vorn auf Rang sechs und damit auch in die Bürgerschaft machte auch die auf Listenplatz 11 kandidierende Heike Sudmann. Gemäß dem komplizierten Berechnungsverfahren bedeutet dieses Ergebnis das Aus für die Kandidatin Christin Bernhold auf Listenplatz sieben – obwohl sie nach Anzahl der Personenstimmen an achter Stelle liegt – und den Kandidaten Mark Roach auf Listenplatz acht.
»Ich freue mich sehr!«, lautete die erste Reaktion von Heike Sudmann gegenüber ND. »Die Nachricht hat mich völlig überrascht.« Ihre Kandidatur auf Platz elf sei ein Kompromiss gewesen: Sie habe, wie sie es bereits 2008 getan hatte, vorsätzlich auf einen hinteren Platz kandidiert. Der Einzug in die Bürgerschaft sei eigentlich nicht geplant gewesen, sie habe anderen Kandidaten den Vortritt lassen wollen. Andererseits wollte sie ihre Partei aber auch unterstützen.
Die 48-jährige ist nämlich politisch alles andere als ein unbeschriebenes Blatt: Die diplomierte Verwaltungswirtin und Stadtplanerin saß von 1993 bis 2001 schon einmal in der Hamburgischen Bürgerschaft. Damals allerdings für die Grün-Alternative Liste (GAL). Weil die Grünen den Jugoslawienkrieg mittrugen und ihre Inhalte in der Koalition mit der SPD immer mehr untergebuttert wurden, kehrte Sudmann 1999 der Partei zusammen mit vier weiteren Abgeordneten – darunter der heutige LINKEN-Vizefraktionschef Norbert Hackbusch – den Rücken. Sie gründeten die parlamentarische Gruppe Regenbogen – Für eine neue Linke, deren Sprecherin Sudmann wurde. 2001 und 2004 scheiterte diese an der Fünf-Prozent-Hürde. »Offenbar haben viele Wähler unsere politische Arbeit von damals honoriert«, erklärt Sudmann ihren unerwarteten Erfolg heute und sagt hörbar gerührt: »Ich hatte nicht gedacht, dass so viele so ein gutes Gedächtnis haben.«
Eine kürzere Politbiografie weist der Bürgerschaftsfrischling Cansu Özdemir auf: Die 22-Jährige, die im Stadtteil St. Pauli im Kinder- und Jugendbereich im offenen Gemeinwesen tätig ist, wurde im Wahlkampf intensiv von der kurdischen Community in Hamburg, Migrantenorganisationen und Frauengruppen unterstützt. Dort hat sich Özdemir einen Namen gemacht.
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