Für das Recht auf Kommunikation

Chiles ältestes Basisradio »Tierra« droht nach 19 Jahren On Air die Frequenz zu verlieren

  • Nils Brock
  • Lesedauer: 4 Min.
Roberto Fuentealbas und María Pía Matta sind Redakteure von Radio Tierra in Chiles Hauptstadt. Tierra gehört zu den 4500 Sendern aus über 100 Ländern, die sich im Weltverband der Freien Radios AMARC zusammengeschlossen haben. Im November 2010 wurde María Pía zur Vorsitzenden des AMARC gewählt. www.amarc.org
Roberto Fuentealbas und María Pía Matta sind Redakteure von Radio Tierra in Chiles Hauptstadt. Tierra gehört zu den 4500 Sendern aus über 100 Ländern, die sich im Weltverband der Freien Radios AMARC zusammengeschlossen haben. Im November 2010 wurde María Pía zur Vorsitzenden des AMARC gewählt. www.amarc.org

»Wann ich beschloss Radiojournalist zu werden? Also das war am 14. Dezember 1983, als in Santiago de Chile der Strom ausfiel«, erinnert sich Roberto Fuentealbas mit einem breiten Grinsen. Er war zu diesem Zeitpunkt noch nicht in der Schule, aber recht geschickt, um mit dem Kurzwellenempfänger die BBC oder das Programm der in der Sowjetunion organisierten Exilanten, Escucha Chile einzustellen. So erfuhr seine Familie auch den Grund für die Stromausfälle: Bombenanschläge der linken Patriotischen Front Manuel Rodriguez (FPMR) auf die städtischen Elektrizitätswerke, ein Angriff auf die nicht enden wollende Militärdiktatur Augusto Pinochets. »Ich war beeindruckt und träumte seitdem davon, eines Tages selbst vor einem Mikro zu sitzen.«

Keine finanzielle Unterstützung

Heute ist es Roberto manchmal fast zu viel, jeden Tag Nachrichten im Radio Tierra einzusprechen, dem ältesten Community Radio Chiles. Doch die meisten ehrenamtlichen Mitstreiter machen Sommerferien. Die übrigen drei festen Radiomacherinnen kommen gerade vom Weltsozialforum zurück und packen ihre Koffer aus. Eine von ihnen ist María Pía Matta, die das Projekt 1991 mitgründete. »Naja, die Zahl der Unterstützer hat immer ein bisschen geschwankt«, muntert sie Roberto auf. Nach der Rückkehr zur Demokratie entstanden in Chile unzählige unabhängige Medien. Doch vielen dieser Projekte gingen schon nach kurzer Zeit die Mittel aus. Die Mitte-Links-Regierung der Concertación verstand es nicht, die aktive Meinungsbildung der Bevölkerung zu unterstützen. Und die gesetzliche Anerkennung von Basisradios war faktisch alles andere als eine Arbeitserleichterung. Die maximale Reichweite eines UKW-Senders darf 200 Meter nicht überschreiten. »So Zuhörer zu finden, ist gar nicht so einfach«, scherzt die ehemalige Journalismus-Studentin.

Radio Tierra bekam bereits vor dieser Regelung eine Frequenz auf der in Lateinamerika bis heute äußerst populären Mittelwelle zugesprochen. Nur wenige der 170 lizenzierten chilenischen Community Radios teilen dieses Privileg, das Radio Tierra stets in weiten Teilen Santiagos hörbar machte. Zumindest bis Anfang dieses Jahres. Denn trotz eifrigem Werben von María Pía und Roberto, um finanzielle und personelle Unterstützung, ist es in den letzten Jahren immer schwieriger geworden, das Programm zu füllen. Für die Nachrichtensendungen konnten sie nach dem Erdbeben 2010 zwar noch einmal die Unterstützung einiger Journalismusstudenten gewinnen, doch für Miete, Gehälter und Wartung der Sendeanlage reichten die Einkünfte zuletzt immer seltener. »Bereits seit fünf Jahren verpachten wir deshalb täglich einen Teil unserer Sendezeit an eine evangelikale Freikirche, nun werden wir ihnen die Frequenz wohl bis auf weiteres ganz überlassen müssen«, klagt Roberto. Dann wird es Radio Tierra nur noch als Audio-Blog im Internet geben. Dass ihnen nicht alle bisherigen Hörer dorthin folgen werden, weiß auch Roberto. »Es muss eine Zwischenlösung bleiben.«

»Natürlich«, fährt María Pía dazwischen, »dieses Radio gibt den Kampf nicht auf.« An bisherigen kleinen Erfolgen ist sie nicht unbeteiligt. Gemeinsam mit vielen weiteren chilenischen Sendern und dem Weltverband der Community Radios (AMARC) stritt sie im vergangenen Jahr erfolgreich für eine Gesetzesänderung, die mehr Sendeleistung und eine finanzielle Unterstützung lokaler Sponsoren erlaubt. »Der Haken an der Sache ist nur, dass sich damit erst mal überhaupt nichts ändert. Die Privatsender halten die Frequenzen fast vollständig in Beschlag, dieses Gesetz ist schlicht nicht anwendbar.« Ein Studie des Kommunikationsministeriums soll nun bis 2012 klären, ob und wie mehr Platz für Community Radios geschaffen werden kann.

Vernetzung für Meinungsfreiheit

»Private Radios werden Konzessionen abgeben müssen, daran führt keine Studie vorbei.« Für ihre deutlichen Worte ist María Pía bekannt und hat wohl auch deshalb im November die meisten Stimmen bei der Wahl um den Vorsitz von AMARC bekommen. Zukünftig wird sie neben Radio Tierra noch über 4500 weitere Sender vertreten. »So verschieden diese Sender auch aussehen und sich anhören, wir alle teilen die Überzeugung, dass das Recht auf Kommunikation und Meinungsfreiheit auch für das Radiomedium gelten muss«, verabschiedet sich María Pía. Und Roberto? Der hofft auf ein baldiges Comeback von Radio Tierra auf Mittelwelle oder UKW. Versonnen klickt er auf der Internetseite der BBC derweil die letzten Nachrichten aus Ägypten an. »Ja, twittern kann heute jeder. Aber diejenigen, die Radio machen wollen, erhalten nicht die dazu notwendigen Mittel.«

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