Traumatisierung kann man erben
Tagung »Immer wieder Krieg«: Bewaffnete Konflikte verstören Menschen über Generationen
Curt Hondrich, der Vorsitzende des Vereins Kriegskinder für den Frieden, umschreibt die dauerhafte seelische Präsenz des Schreckens zu gern mit dem Credo des im Vorjahr gegründeten Deutschen Veteranenverbandes: »Du kannst den Soldaten aus dem Krieg nehmen, aber den Krieg nie wieder aus dem Soldaten.« Betroffen von Kriegstraumatas sind auch Familien und Freunde von Angehörigen uniformierter Truppen wie von Zivilisten. Der niederländische Psychoanalytiker Hans Keilson, als Jude im Nationalsozialismus selbst verfolgt, sprach bereits davon, dass Traumatisierung ein lebenslanger Prozess sei. Inzwischen weiß man: Das Trauma-Syndrom wirkt generationenübergreifend.
Hans Strenge vom Institut für medizinische Psychologie in Kiel führte aus, dass Hirnforscher sich seit geraumer Zeit mit Traumatisierungen beschäftigt und Einblicke bis tief in die Molekularbiologie möglich gemacht haben. Nach den Anschlägen vom 11. September in New York fand die Psychologin Rachel Yehuda heraus, dass sich Stressfaktoren bei damals schwangeren Frauen auch auf die Entwicklung der Embryos auswirkten. Bereits bei der psychoanalytischen Untersuchung von Holocaust-Überlebenden hatte sie festgestellt, dass sich auch bei deren Kindern, die die Hölle des Nationalsozialismus gar nicht direkt miterlebten, Traumatisierungen und Angstpsychosen feststellen ließen.
Die veranstaltenden Vereine, Kriegskinder für den Frieden und kriegskind.de, verstehen ihre aufklärenden Aktivitäten als einen Beitrag zur Friedensarbeit. So verwundert es nicht, dass ein Fokus auf Traumatisierungen in der afghanischen Bevölkerung gelegt wurde. Dazu trugen die Beobachtungen und Erfahrungen von Inge Missmahl bei, die seit mehreren Jahren in der psychosozialen Betreuung in dem von Krieg gebeutelten Land arbeitet. Kiel war für sie dabei nur Durchgangsstation auf dem Weg von einer Konferenz in Washington hin zu Gesprächen in Kabul. Ein Durchschnittsalter von 17,3 Jahren und eine Lebenserwartung von 43 Jahren prägen Afghanistan ebenso wie jahrzehntelange bewaffnete Auseinandersetzungen durch und mit Taliban, Mudschaheddin, Russen und westlichen Truppen. Ihre Feststellung: »Hier hat eine ganze Bevölkerung nur das Kriegshandwerk vor Augen.« Natürlich prallt das nicht einfach an den Menschen ab, im Gegenteil: Gewalt gehört bis in die Familien hinein zum täglichen Leben. Religion, Tradition und Kultur sorgen häufig noch für weiteren Druck. Medizinische und psychologische Hilfestellung wird in einer solchen Gemengelage oft falsch verstanden als Einmischung. Missmahl räumt ein: »Die allgemeine Skepsis gegenüber psychologischer Arbeit bezüglich eines Kulturimperialismus (ist) nicht unbegründet.«
Langzeitfolgen durch die Kriege um Unabhängigkeit und Grenzverläufe zwischen Äthiopien und Eritrea sind ebenfalls unübersehbar. So gibt es in Eritrea, dem kleinen Land am Horn von Afrika, unzählige Familien, die in den Kriegswirren auseinander gerissenen wurden. Bald eine Million Eritreer leben nach Angaben der Politologin Johanna Fleischhauer, die sich jahrelang mit der Entwicklung in der Region beschäftigt hat, inzwischen verstreut auf dem Globus »von Saudi-Arabien bis Kanada«. Kriegswitwen bilden 40 Prozent der Haushalte in Eritrea. Während Mütter in dem 30-jährigen Befreiungskrieg, der bis 1991 dauerte, wie die Männer in Uniformen schlüpften, versuchte man Kinder in Revolutionsschulen trotz regelmäßigen Bombenhagels zu unterrichten. Diese sind inzwischen erwachsen. Mit einigen hat Fleischhauer über das Erlebte und Verarbeitete sprechen können. Bei fast allen überwog die Sehnsucht nach Frieden, Sicherheit und Geborgenheit, nur ganz wenige sehen ihre Lebensphilosophie in Gewalt, Militarisierung und Krieg. Für ihre Feldstudie erhielt Fleischhauer vor wenigen Wochen den Preis der Josef-Popper-Nährpflicht-Stiftung der Universität Frankfurt.
Welche Folgen haben Kriegstraumata? Sind Kriegskinder friedensfähig? Beide Fragen bedürfen künftig noch vieler intensiver Untersuchungen. Dafür ist nach Ansicht von Curt Hondrich auch die historische Aufarbeitung unerlässlich. Zusammen mit der Forschungsstelle für Zeitgeschichte in Hamburg soll deshalb ein Zeitzeugenarchiv aufgebaut werden.
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