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Die Grenzen einer linken Regierung denken

Bewegungsaktivist Thomas Seibert über seine Motivation, sich im Institut Solidarische Moderne zu engagieren

  • Lesedauer: 6 Min.
Thomas Seibert ist Philosoph und seit den 1970er Jahren in sozialen Bewegungen aktiv. Mit Gründung des ISM wurde er zu einem der Vorstandssprecher. Er arbeitet darüber hinaus im Wissenschaftlichen Beirat der Rosa-Luxemburg-Stiftung, in attac und in der Interventionistischen Linken (IL). Mit ihm sprach sein Namensvetter Niels Seibert.
Die Grenzen einer linken Regierung denken

ND: Das Institut Solidarische Moderne (ISM) wurde vor einem Jahr gegründet. Im September vergangenen Jahres veranstaltete es die Summer Factory an der Frankfurter Goethe-Universität. Dort war ein großes Interesse am ISM spürbar und auch ein großes Potenzial engagierter Mitstreiter anwesend. Was macht die Anziehungskraft des ISM aus?
Seibert: Es gibt in weiten Teilen der Gesellschaft ein wachsendes Interesse an einem umfassenden linken Reformprojekt. Durchsetzbar wird das nur in einer Bündniskonstellation sein, zu der nach Lage der Dinge die rot-rot-grünen Parteien, aber auch zivilgesellschaftliche Organisationen, Gewerkschaften, soziale Bewegungen und kritische Wissenschaft gehören werden. Sie alle haben ganz eigene Probleme. Das macht die Anziehungskraft des ISM aus: einen Ort zu schaffen, sich über die problematischen Bedingungen eines gemeinsamen linksreformistischen Projekts auszutauschen und von dort zu beginnen, die gesellschaftlichen Hegemonie-Verhältnisse umzukehren. Als Programmwerkstatt eines solchen Projekts will das ISM zu einem Relais werden zwischen Parteipolitik und wissenschaftlichen, zivilgesellschaftlichen und Bewegungsöffentlichkeiten.

Gibt es Überlegungen, interessierte Menschen in euren Prozess aktiv einzubinden?
Wir haben dazu verschiedene Arbeitsgruppen geschaffen. Die AG »Solidarische Arbeitsverhältnisse« sucht ausgehend von den Transformationen der Arbeit in den letzten 30 Jahren einen neuen Zugang zur sozialen Frage. Die Demokratie AG schließt an die offenkundige gesellschaftliche Unruhe in Sachen Demokratie an, wie sie in Stuttgart, aber auch in den Anti-Atom-Protesten kenntlich wird. In beiden Arbeitsgruppen geht es darum, innerlinke Blockaden zu brechen, z. B. die zwischen links-keynesianischen und links-alternativen Antworten auf die soziale Frage. Außerdem gibt es eine AG zu gesundheitspolitischen Fragen und eine weitere, die unsere nächste Summer Factory vorbereitet, die im September stattfinden wird. Aktuell diskutieren wir die Initiierung lokaler Crossover-Plattformen.

Im Februar machte ein neuer rot-grüner Thinktank von SPD-Generalsekretärin Andrea Nahles und der Grünen Bundesgeschäftsführerin Steffi Lemke von sich reden. Bekommt das ISM Konkurrenz?
Nein, wir freuen uns sogar auf eine mögliche Zusammenarbeit. Der Unterschied ist, dass deren Initiative im Wesentlichen von den Parteivorständen ausgeht, während das ISM aus linken Kreisen der beteiligten Parteien, der Gewerkschaften, der Wissenschaften und aus Bewegungszusammenhängen kommt. Deshalb ist die Teilnahme der LINKEN für uns entscheidend.

Die undogmatische Linke der 70er und 80er Jahre, in der Du aktiv warst, sprach von Gegenmacht. Die galt es zu organisieren, um die ökonomische und politische Macht des Kapitals zu brechen. Davon spricht die Linke heute kaum noch. Ist denn der Aufbau von Gegenmacht für Dich noch ein Bezugspunkt?
Das ist sogar ein Grund, warum ich als Bewegungsaktivist im ISM mitarbeite. Die Schwäche sozialer Bewegung hängt für mich mit ihrem Unwillen und ihrer Unfähigkeit – es gibt beides – zusammen, Fragen von Macht und Gegenmacht ausdrücklich aufzuwerfen. Ohne den Versuch, sie zu beantworten, kommt Bewegung aber nicht voran: auf die Dauer reicht es nicht, nur Unmut zu artikulieren oder die bloße Möglichkeit einer anderen Welt zu behaupten. Welche andere Welt ist gemeint? Und wie kann sie mit wem auf welchen Wegen durchgesetzt werden? Natürlich glaube ich nicht, dass eine Regierungskoalition allein dazu die Antwort liefert. Doch kommt mit ihr die Frage der Durchsetzung ins Spiel. Das interessiert mich.

Du charakterisierst das ISM als linksreformistisches Projekt. Warum hast Du Dich als radikaler Linker zu einem Sprecher dieses Projekts wählen lassen?
Wir wissen doch seit langem, dass Reformprojekte und revolutionäre Projekte nicht abstrakt gegeneinander gesetzt werden müssen. Um deren Zusammenhang wie deren unvermeidliche Widersprüche konkret zu erproben, braucht man allerdings erst einmal ein solches Projekt. Das aber fehlt, und dieses Fehlen ist einer der Gründe, warum die eben genannten Macht- und Gegenmachtfragen so blass geworden sind. Es gibt jede Menge Einzelforderungen und es gibt, wie jüngst in der Kommunismus-Debatte zu hören, wohlmeinende Anrufungen vager Utopien. Doch wird das nicht zu einem zusammenhängenden Projekt zusammengebracht, in dem die Gesellschaft sich vor ein Entweder-Oder stellt. Will man heute eine solche Alternative, muss man das linksreformistisch beginnen. Die radikale Linke für sich hat eine andere Aufgabe, ihr immer neu zu bestimmender Einsatz ist die Kritik der Macht und die aktive Selbstermächtigung der Leute.

Du siehst im ISM auch einen Nutzen für die außerparlamentarische Bewegung. Kannst Du das konkretisieren?
Ich kann da unmittelbar an das Vorhergesagte anschließen. Der Rückgang der globalisierungskritischen Bewegungen der letzten zehn Jahre resultiert auch aus ihrem Verzicht auf die Ausbildung einer Durchsetzungsperspektive. Dasselbe gilt für die Krisenproteste der letzten Jahre, aus denen sich ebenfalls keine kontinuierliche, starke Kraft entwickelt hat. Eine solche Durchsetzungsperspektive hängt aber an einem Alternativprojekt, das auf das Ganze der Gesellschaft zielt. Mit einem solchen Entweder-Oder kann sich eine Dynamik entfalten, die sehr viel weiter gehen könnte, als das anfangs möglich erscheint. Dann erst wird die Losung »Wir zahlen nicht für eure Krise!« zur realen Option. Fehlt solche Dynamik, bleiben die Leute zu Hause: sie wollen sich nicht auch noch von links verkaufen lassen.

Das ISM spricht davon, dass aus der gesellschaftlichen Mehrheit wieder eine politische Mehrheit in demokratischen Wahlen werden soll. Was erwartest Du von einer möglichen rot-rot-grünen Regierung?
Formiert sich ein ernsthaftes linkes Regierungsprojekt, stellt sich unvermeidlich die Frage, wie heute überhaupt noch linksreformistisch regiert werden kann. Wir kennen die Einwände: kapitalistische Globalisierung hat die Handlungsmöglichkeiten des nationalen Staates radikal verändert, es gibt nichts zu verteilen, auch der Zusammenhang ist zerrissen, der bis in die 70er Jahre Vollerwerbsgesellschaft und Sozialstaat zusammenhielt. Die sozialen Kämpfe sind schwach, der Neoliberalismus noch immer hegemonial. Ein linksreformistisches Regierungsprojekt müsste diese Fragen offensiv politisieren und dabei eine neue Art und Weise des Regierens entwerfen: ein Regieren, das seine Grenzen zum gesellschaftlichen Problem macht und damit zu sich selbst in Opposition tritt.

Als Regierung in Opposition zu sich selbst stehen – das sind schöne Worte, aber wie kann ich mir das in der Realität konkret vorstellen?
Nach dem Scheitern einer rot-rot-grünen Regierungsbildung in Nordrhein-Westfalen haben Sozialdemokraten und Grüne den LINKEN vorgeworfen, politikunfähig zu sein, weil sie als Fraktion und mit Ministerinnen und Ministern an der Regierung teilnehmen und sich gleichzeitig als Partei am absehbaren gesellschaftlichen Protest gegen diese Regierung beteiligen wollte. Im ISM wurde die Haltung der LINKEN ausdrücklich begrüßt: Man muss die Regierung zum Element einer gesellschaftlichen Mobilisierung gegen die Grenzen des Regierens machen, sie darf nur Mittel, nie Zweck sein. Natürlich hängt alles daran, das ernst zu meinen und nicht als Wahlpropaganda. Da haben auch die LINKEN viel zu lernen.

Eine Gretchenfrage einer rot-rot-grünen Bundesregierung wird die Kriegsbeteiligung sein. Wie debattiert darüber das ISM?
Da gibt es im Moment keine gemeinsame Position. Mitglieder des ISM stimmen dem Afghanistaneinsatz bedingt zu, andere lehnen ihn definitiv ab. Insofern ist diese Debatte zentraler Teil des Crossover-Prozesses. Ich persönlich will die Zustimmung zu jeder Form deutscher Kriegspolitik prinzipiell zersetzen und möchte, dass sich das ISM an dieser dringend notwendigen Arbeit beteiligt.


Politisches Crossover

Das im Januar 2010 gegründete Institut Solidarische Moderne (ISM) versteht sich als parteiübergreifende Programmwerkstatt für linke Politikkonzepte. Zu den Gründungsmitgliedern und Sprechern gehören Andrea Ypsilanti (SPD), Sven Giegold (Grüne), Katja Kipping (LINKE). Ziel des Crossover-Projekts ist es, Grenzen zwischen gesellschaftlichen Teilbereichen zu überwinden und gemeinsam politische Alternativen zum Neoliberalismus zu entwickeln.
solidarische-moderne.de

Auch in anderen europäischen Ländern gibt es Crossover-Ansätze über Parteigrenzen hinweg.

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