»Wisconsin hat einiges in Bewegung gebracht«

Gewerkschafter Tim Schermerhorn über Strategien gegen neoliberale Politik

  • Lesedauer: 3 Min.
Tim Schermerhorn war von 2001 bis 2003 Vizepräsident der Transportation Workers Union in New York und Gründer der gewerkschaftlichen Zeitschrift »Hell on Wheels« (Hölle auf Rädern). Für ND sprach Max Böhnel mit dem gelernten U-Bahnfahrer.
»Wisconsin hat einiges in Bewegung gebracht«

ND: Wird sich der »Geist von Wisconsin« demnächst auch in der New Yorker Arbeiterschaft verbreiten?
Schermerhorn: New York ist bereits seit Jahrzehnten ein Laboratorium für Neoliberalismus, der in den USA in den frühen 70er Jahren geboren wurde. Er drückte sich zunächst organisatorisch in Form von Denkfabriken und in Form der Unternehmer- und Politikervereinigung »National Business Round Table« aus. Diese Institutionen ließen schon in den 70er Jahren die Hunde auf die Arbeiter los. Die Gewerkschaften im privaten Bereich wurden in den Vereinigten Staaten durch neoliberale Politik verheerend zugerichtet. Der öffentliche Sektor blieb weitgehend unangetastet – bis auf New York. Seit 1975 bestimmten in der Stadt die Banker die Politik, einschließlich der Politik des Bürgermeisters. Im öffentlichen Sektor gab es keine Lohnerhöhungen mehr, über ein Dutzend Krankenhäuser wurden geschlossen.

Erst der Streik der Transportarbeitergewerkschaft, die eine außergewöhnlich aktive Mitgliedschaft hatte, brach im Jahr 1980 das Regime wenigstens in unserer Branche. Der restliche Widerstand wurde auf bezirklicher und nachbarschaftlicher Ebene getragen. Es ging darum, eine Feuerwache, ein Krankenhaus oder eine öffentliche Bücherei vor der Schließung zu bewahren. Neoliberale Reformen kennen wir in New York nun schon seit fast 40 Jahren, weit bevor sie dem öffentlichen Sektor im Rest des Landes oktroyiert wurden.

Und jetzt ein Generalangriff auf den öffentlichen Sektor?
Der öffentliche Sektor macht lediglich ein Sechstel der Zahl der Erwerbstätigen in den Vereinigten Staaten aus. Aber 37 Prozent von ihnen sind in Gewerkschaften organisiert, das sind immerhin 7,5 Millionen Lohnabhängige. Im privaten Bereich sind es dagegen nur sieben Prozent. Die neoliberale Austeritätspolitik funktionierte so lange, wie die Gewerkschaften sie sozusagen »mitbegleiten«, kritisch oder nicht, und solange die Gewerkschaftsbasis es nur beim Murren beließ. Das war nun in Wisconsin völlig anders. Dort haben die Lehrer gestreikt, obwohl es gegen die Regeln verstößt, die Bevölkerung hat das Parlament besetzt. Das waren Aktionen, die sich über die Politik der Gewerkschaftsführung in Wisconsin hinwegsetzten.

Auf dem »Left Forum« wurde diskutiert, ob Wisconsin einen Wendepunkt darstellt. Wie sehen Sie das?
Wenn sich die Streiks und die Besetzung auf andere Bundesstaaten ausdehnen, glaube ich tatsächlich an einen Wendepunkt. Wenn sich innerhalb der Gewerkschaften eine Diskussion um eine dritte Partei jenseits der Republikaner und Demokraten entwickelt, dann bin ich mir sicher, dass ein Wendepunkt erreicht sein wird. Vorher jedoch nicht, denn dann würde es sich, auch wenn das rechte Gesetz in Wisconsin abgeschmettert wäre, lediglich um einen defensiven Sieg der Gewerkschaftsbewegung in einer Rückzugsschlacht handeln. Erst wenn eine Bewegung sichtbar wird, die über die Führungen der Gewerkschaften und der mit ihnen verbündeten Politiker der Demokraten hinauswirkt, können die Gewerkschaften wieder Stärke gewinnen.

Was haben Sie vom »Left Forum« erwartet?
In den vergangenen fünf Jahren war ich nicht interessiert. Aber Wisconsin hat einiges in Bewegung gebracht. Die Gewerkschaftslinke war auf dem »Left Forum« fast vollständig vertreten und konnte sich austauschen. Dieses Mal waren erstmals mehr Leute vertreten als die weißhaarigen alten Linken, die sich sowieso alle kennen beziehungsweise aus dem Weg gehen.

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