»Man muss sich schon was einfallen lassen«

Mit dem Fahrrad durchs Erzgebirge, das mehr zu bieten hat als Nussknacker und Bergwerksromantik

  • Patrick Kunkel
  • Lesedauer: 7 Min.
Vom Kamm des Erzgebirges hat man einen tollen Blick über die Landschaft.
Vom Kamm des Erzgebirges hat man einen tollen Blick über die Landschaft.

Nein, über Holzköpfe macht man keine Scherze. Und erst recht nicht im Erzgebirge. »Man sagt, die Einwohner des Erzgebirges seien echte Holzköpfe«. Diesen Slogan hatte die Tourismus-Marketing-Gesellschaft Sachsen 2006 unter einem Foto von Nussknackern platziert. Er sollte vor allem Touristen aus dem Westen in das Gebirge an der sächsisch-böhmischen Grenze locken. Das Motiv sollte in ganz Deutschland plakatiert werden, doch ehe es dazu kam, brach der Sturm los: Die vermeintlichen Holzköpfe fühlten sich herabgesetzt und fanden den knackigen Spruch gar nicht lustig. Es gab ordentlich politischen Wirbel, am Ende blies die Dresdner Landesregierung die Kampagne ab.

»Viele Leute hier sind halt nicht zur Selbstironie fähig. Das ist ein bisschen schade«, sagt Thomas Frenzel, Wirt vom Forsthaus Frenzel in dem Gebirgsdorf Lengefeld im Mittleren Erzgebirge. Gerade hat er ein üppiges Abendessen aufgetragen, Mufflonbraten mit Klößen und Rosenkohl. Jetzt sitzen wir zusammen auf der Terrasse seiner Wirtschaft, ringsum sanft gewellte Landschaft, Wiesen, Weiden und Wälder wechseln sich ab. Das Auge isst mit, und der Hunger ist groß, schließlich bin ich am frühen Morgen mit dem Rad in Oberwiesenthal gestartet – der zweiten Etappe einer Radreise durch das Erzgebirge. Der Weg zum Mufflon war weit: 67 Kilometer auf Forstwegen und einsamen Landstraßen liegen hinter mir, und über 800 Höhenmeter.

Im Sattel übern Berg

Insgesamt vier Tage soll die knapp 200 Kilometer lange Tour über den Erzgebirgskamm dauern, das Ziel ist das Fachwerkstädtchen Lauenstein. Gestartet bin ich in Johanngeorgenstadt. Die Sonne ist zum Glück das einzige, was in dem Bergbaustädtchen heute noch strahlt: In Johanngeorgenstadt wurde einst Uran entdeckt und später geschürft, zwischen 1946 und 1958 derart rücksichtslos, dass große Teile der Altstadt zerstört wurden.

Der Ort liegt direkt an der Grenze, wo sich auf tschechischer Seite bunte Buden aneinanderdrängen: Zigaretten, Plastikspielzeug und billige Holzschnitzereien aus Fernost werden hier verscherbelt – doch gleicht hinter der Ladenmeile beginnt der ruhige und kühle böhmische Bergwald. Nach kurzen 25 Kilometern und einem Abstecher auf den Fichtelberg (1215 m), dem höchsten Berg des Erzgebirges, endet die Etappe in Oberwiesenthal. Hier betreibt der ehemalige Skispringer Jens Weissflog ein Appartmenthotel, wo sich alles ums Skispringen dreht. Das Haus profitiert vor allem von dem populären Namen seines Eigentümers: »Ich schreibe jede Woche an die hundert Autogrammkarten«, stöhnt Weißflog. Aber er nimmt es sportlich: »Das gehört halt dazu.«

Am nächsten Morgen geht's nach Tschechien, also »rüber nach Böhmen« wie ein netter Mann auf der Straße sagt, dorthin wo das Erzgebirge Krušné hory heißt und die Landschaft schroffer ist als auf deutscher Seite. In Sichtweite liegt der Klínovec (Keilberg) mit 1244 m der höchste Berg des Gebirges, den die Panoramastraße elegant umkurvt, ehe sie eine opulente Aussicht über das Böhmische Becken freigibt.

Bei Jöhstadt rolle ich zurück nach Deutschland, alte Schlote mitten im Wald zeugen von der Bergbauvergangenheit der Region. Im Preßnitztal führt der Weg durch wildromantischen Wald, vorbei an schroffen Felsen. Der kleine Gebirgsfluss Preßnitz gurgelt um die steilen Felswände, eine Schmalspur-Dampflok mit historischen Waggons zuckelt pfeifend und zischend heran, die Preßnitztalbahn, die restauriert seit einigen Jahren wieder durch das Tal rollt. Mit Sehenswürdigkeiten geizt das Erzgebirge jedenfalls nicht: Alte Wehrkirchen, historische Altstädte, Schlösser, Burgen liegen an der Strecke, ebenso Schaubergwerke, Pferdegöpel und ein historisches Kalkwerk.

Nur die Holzköpfe, die echten, sieht man mitten im Sommer nur selten, obgleich das Erzgebirge ja vor allem wegen seiner Engel, Räuchermännchen, Schwibbögen und Pyramiden aus Holz berühmt ist: Wenn es auf Weihnachten zugeht, kommen viele Reisebusse und bringen Touristen ins Land der Weihnachtsbräuche und Holzschnitzkunst. Holzköpfe gibt’s dann an jeder Ecke. Doch in der warmen Jahreszeit ist es ruhig und selbst auf vielen Straßen ist kaum etwas los – was Touristiker und Gastronomen gern anders hätten, Radreisende hingegen erfreut.

Ein Haus für Radler

»An Weihnachten im Erzgebirge kommt nichts anderes ran«, sagt Forsthaus-Wirt Thomas Frenzel, »aber abgesehen davon ist es ja nicht gerade eine bekannte Tourismus-Region, in die die Leute in Scharen kommen. Man muss sich schon was einfallen lassen«. Genau das hat der Wirt gemacht: Bei Frenzel ist auch im Sommer Hauptsaison, denn er hat aus der 150 Jahre alten Traditionsgaststätte kurzerhand die erste Rad- und Mountainbike-Pension Sachsens gemacht. Vor der Tür hängt ein Automat mit Fahrradschläuchen jeder Größe, drinnen kann man sich Tipps über die besten Routen rund um Lengefeld besorgen. Dreckige Radklamotten werden gewaschen – ohne Aufpreis, und an Wochenenden nimmt auch mal eine 20-köpfige Väter-Kind-Gruppe den gesamten Gasthof in Beschlag. Zum Biker-Stammtisch im Forsthaus treffen sich Radler aus der ganzen Region. »Wenn ich Zeit habe, fahre ich selbst mit den Gästen eine Runde«, sagt Frenzel, »am liebsten auf dem Mountainbike.«

Im Wald rund um das Forsthaus haben er und Mitstreiter in Ermangelung ausgeschilderter Radrouten selbst Schild für Schild an die Bäume genagelt und ein Netz von Mountainbike-Strecken ausgeschildert. Für Radler gibt es einige lokale Radrouten, doch bei den Fernradwegen fehlen sehr oft die Schilder, so dass man auf gutes Kartenmaterial und GPS-Daten angewiesen ist. »Miriquidi-Bike-Trails« nennt Thomas Frenzel sein Strecken-Projekt – der Titel spielt auf den alten Namen des Erzgebirges vor dem großen Silberrausch im 12. Jahrhundert an: »Miriquidi« soll es damals geheißen haben, was »Dunkelwald« bedeutete, dicht und undurchdringlich. Einst gab es nur wenige Routen über die Pässe; die Reise war nicht nur schwer sondern auch gefährlich.

Heute ist das natürlich anders: Bergbau und Besiedlung haben das Erzgebirge fast vollständig zu einer Kulturlandschaft umgestaltet. Ein dichtes Netz an Straßen und Wegen durchzieht das Gebiet. Und von »Dunkelwald« kann keine Rede mehr sein. Oft fahre ich durch lichten Mischwald mit Buchen, Lärchen und dem Vogelbeerbaum, dem Charakterbaum des Erzgebirges. Oder über karge Hochflächen, wo Latschenkiefern schon auf einer Höhe von 1000 Metern vorkommen, weil das Klima hier so rau ist wie in den Alpen erst ab 1500 Metern.

Grenzübergreifend

Neben der üppigen Natur hat der Landstrich auch überraschend viele Kontraste: Das Erzgebirge ist einerseits abgelegen und sehr einsam, andererseits ist es eine der am dichtesten besiedelten Gebirgsregionen Europas, in der rund 1,2 Millionen Menschen leben. Kontrastreich sind auch die Landschaften: Bei der Gebirgsentstehung wurde das Gebirge nur auf einer Seite hochgehoben, von Sachsen steigt es allmählich an, um auf der böhmischen Südseite steil abzufallen – dort warten auch die heftigeren und längeren Anstiege für Radler. Der Kamm bildet eine Abfolge von Hochflächen und Einzelbergen. Knapp nördlich der Kammlinie verläuft die Staatsgrenze zwischen Deutschland und Tschechien, die dank dem Wegfall der Zollkontrollen so durchlässig ist, wie seit Jahrhunderten nicht mehr.

Im Schweinitztal gibt es jedes Dorf doppelt, einmal auf deutscher, einmal auf tschechischer Seite, der Seitenwechsel ist völlig problemlos. Die Schweinitz durchfließt ein altes Bergbaugebiet. Die Traditionen des Bergbaus sind im Fortunastollen in Deutschkatharinenberg zu besichtigen, doch vom Bergbau leben die Menschen hier auf beiden Seiten der Grenze schon lange nicht mehr. Eher schon von den Erzeugnissen der Holzschnitzkunst: Schaufenster und Werbeschilder preisen die Waren aus dem Ort an.

Doch so ganz hat man im Schweinitztal die Hoffnung auf Reichtum unter Tage nicht begraben. Nur wird heute nicht mehr nach Silber, sondern nach dem verschollenen Bernsteinzimmer gesucht. Das soll angeblich hier im Zweiten Weltkrieg tief im Berg versteckt worden sein.

  • Radwandern-Erzgebirge, Weißbacher Straße 20, 09439 Amtsberg, Tel: (037209) 70 37 15, www.radwandern-erzgebirge.de
  • Gasthof & Pension Forsthaus, Vorwerk 9, 09514 Lengefeld, Tel. (037367) 22 77, www.gasthof-forsthaus.com
  • Radtourenkarten: Saale/Westliches Erzgebirge, bzw. Lausitz/Östliches Erzgebirge, Blatt 13 und 14, 1 : 150 000, Bielefelder Verlagsanstalt; bikeline Radkarte: »Dresden, Erzgebirge Ost, Elbsandsteingebirge«, 1:75 000, Esterbauer Verlag;
  • GPS-Reiseplanung: Magic Maps, Tour Explorer 25 Sachsen / Thüringen
  • GPS-Tracks: www.radwandern-erzgebirge.de; www.gps-tour.info
  • Da die Strecke auch durch Tschechien führt, sollte ein Personaldokument nicht fehlen.
  • Beste Reisezeit: April bis Oktober
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