Warschau fürchtet den Aderlass

Konsequenzen der westeuropäischen Arbeitsmarktöffnung umstritten

  • Julian Bartosz, Wroclaw
  • Lesedauer: 3 Min.
»Die Deutschen höhlen den polnischen Arbeitsmarkt aus! Sie holen sich die besten Fachkräfte!« So klagen seit Wochen polnische Medien angesichts der zum 1. Mai bevorstehenden vollen Arbeitnehmerfreizügigkeit.

Wenn nach Ausschöpfung der siebenjährigen »Schonfrist« für den Arbeitsmarkt westlich von Oder und Neiße dieser am 1. Mai für polnische Arbeitsuchende freigegeben wird, werden nach Regierungsprognosen in Warschau in den nächsten drei Jahren bis zu 400 000 Polen in diese Richtung auswandern. Arbeits- und Sozialministerin Jolanta Fedak beschwichtigte dieser Tage, »eine Abwerbung« werde es nicht geben. Zunächst würde wohl eine Legalisierung der in Deutschland beschäftigten illegalen Arbeitnehmer stattfinden. Die Zeitung »Gazeta Wyborcza« hingegen befürchtet, dass in einigen Jahren »bei uns qualifizierte Kräfte fehlen«. Die Altersstruktur der Bevölkerung sei jetzt schon für die Wirtschaftsentwicklung Polens ungünstig. Nach Vorausschau des Instituts für Gesellschaftspolitik der Warschauer Universität werden bis 2015 fast 800 000 Menschen in den Ruhestand gehen. Falls die Prognose für die Arbeitsmigration sich einstellt, würde in Polen eine ganze Jahresrate neuer Arbeitskräfte ausfallen. Bei einem geplanten Jahreszuwachs des Bruttoinlandsproduktes von vier bis fünf Prozent könnte eine kritische Lage entstehen. Auch Laszlo Andor, der Brüsseler EU-Beschäftigungskommissar, sorgt sich, dass Polen und andere Länder ihrer ausgebildeten Arbeitskräfte verlustig gehen könnten.

In Warschau tröstet man sich, dass nach der Öffnung des deutschen und österreichischen Arbeitsmarktes nicht so viele Polen im Ausland Arbeit suchen könnten wie nach dem EU-Beitritt 2004. Damals gingen etwa zwei Millionen junge Polen nach Großbritannien, Irland und Skandinavien. Nach Ausbruch der Krise 2009 kehrten viele heim. Der deutsche Arbeitsmarkt war aber schon zu Schröders Kanzlerschaft für Informatiker, Elektroniker, Ingenieure, Ärzte und Krankenschwestern, Altenbetreuerinnen sowie Facharbeiter aller Art offen. Um qualifizierte Fachleute mit entsprechenden Berufserfahrungen und Deutschkenntnissen wird auch jetzt von deutschen Firmen intensiv geworben. Mit Versprechungen höherer Löhne und sogar besserer Sozialleistungen sind sie erfolgreich. Viele Firmen in der Bundesrepublik beabsichtigen, nach Öffnung des Arbeitsmarktes ihre »Beschäftigungsstruktur aufzubessern«.

Wohin das führen kann, analysierte in der Ausgabe in der linken Wochenschrift »Przeglad« der Soziologe Piotr Zuk von der Universität Wroclaw. Er betonte zu dem als Kampftag der Arbeiter gefeierten 1. Mai, dass die internationale Solidarität in der jetzigen Globalisierungszeit noch notwendiger werde. Von deutschen Arbeitgebern gehe nämlich die Gefahr aus, die Arbeitsmigranten aus dem Osten einem Lohndumping auszusetzen. Gleiches befürchten die Partei DIE LINKE und Gewerkschaften in Deutschland. Deshalb sei es wichtig, sowohl in Polen als auch in Deutschland um einen angemessenen Mindestlohn zu kämpfen. In Polen wird jedoch am 1. Mai nicht demonstriert und protestiert. Die unter starkem Einfluss der Kirche stehende Gewerkschaft Solidarnosc begeht seit Jahren zu diesem Datum den St.-Josef-Tag. Jetzt ist sie am 1. Mai mit der ganzen Nation darauf eingestellt, in Prozessionen und Gottesdiensten für die Seligsprechung »unseres Papstes« Johannes Paul II. zu danken.

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