Was heißt »gutes Leben«?
Vom Wachstum, das wir wirklich brauchen
Das »gute Leben«, in dem man sich wohlfühlt, braucht zum Beginn eine Portion Glück mit den Eltern. Die Eltern können Verständnis für ihre Kinder haben. Dann verbieten sie ihnen nicht, ihre kindlichen Fragen zu stellen. Die Kinder bewahren ihre kindliche Neugier, und nicht verbogen wird ihnen ihr Rückgrat. In der Schule kommen sie gut voran. Deshalb werden sie auch ihren eigenen Kindern das Rückgrat nicht verbiegen. Das ist Glück hoch zwei. Und alle werden sie in ihrem Berufe rebellieren. Ich kann bezeugen: Das ist interessant.
In meinem Beruf habe ich oft rebelliert, weil ich erkannte, was nottut. Noch heute habe ich interessante Arbeit, als Rentner. Mitstreiter aus Bürger-Initiativen rufen bei mir an. Auch Kollegen von früher rufen bei mir an, sie erinnern sich unserer gemeinsamen Arbeit für unsere Mitmenschen. Solidarität gehört zum »guten Leben«, den Mitmenschen Mut machen zum aufrechten Gang. Und eine intakte Natur gehört dazu, in der man wandernd seine Sinne weiden kann. Ich weiß, wie gelb der Ginster und wie blau die Kornblume blüht und wie sich der Ahorn färbt im Frühjahr und im Herbst. Wer gut hat lesen erlernt, der weiß, wie das die Dichter besungen haben. Mein Glück möchte ich anderen Menschen mitteilen, das gehört zu meinem Glück.
So etwa kann man sich vorstellen, was »gutes Leben« ist. Und schließlich – wir alle wissen, was Friedrich Schiller meinte, als er schrieb: »Wer ein holdes Weib gewonnen, mische seinen Jubel ein!«
Bündig und kurz: »Die Materie lacht in poetisch-sinnlichem Glanze den ganzen Menschen an.« So hat es ein Philosoph ausgedrückt, mit Vornamen Karl. Aber kaufen, kaufen, kaufen, um nichts als Gegenstände zu haben? Der Philosoph mit dem Nachnamen Marx hatte das verworfen: »An die Stelle aller physischen und geistigen Sinne ist [...] der Sinn des Habens getreten.« Das nannte er Entfremdung des Menschen von sich selber. Deshalb gehört zum »guten Leben«, anderen Menschen zu helfen, ihre Entfremdung von der Menschengattung und von der Natur, also die Entfremdung von sich selber zu überwinden.
Nun höre ich von erwachsenen Leuten: Ja, das »gute Leben«, aber wir leben ja im Neoliberalismus, da kann jeder machen, was er will, und wenn er eben einen Porsche haben will, dann muss er ihn auch haben, koste es, was es wolle. Aus dem Haben an Sachen wird leicht ein Haben von Macht. Nur ums »Haben« von Arbeitsplätzen geht es ihnen nicht: Bist du einer zu viel, dann sieh selbst, wo du bleibst. Der Neoliberalismus ist rigoros. Um des großen Habens willen sind seinen Jüngern die Nicht-Habenden eine Sekte, und wenn die Habe-Nichtse dennoch leben wollen, dann müssen sie den Behörden gehorchen und bereit sein zum Ein-Euro-Job.
Wie sollten wir uns zum »guten Leben« äußern? Es liegt uns nicht so sehr, den Sinn des Habens rabiat zu verdammen. Aber energisch zeigen wir, wie sehr unsere Erde durch das große Haben gefährdet ist. Das hören jetzt schon viele Mitbürger. Doch sie wollen ihre Freiheit genießen, als ginge es um ein Glas Rotwein. Als unsittlich wollen sie nicht gelten, doch sie schweigen. Sie wollen Freiheit ohne Verantwortung. Das ist dem Grundgesetz zuwider, man denke nur an Artikel 2, dort ist sogar auf das »Sittengesetz« Bezug genommen. Reicht es da, die Gefahren des Habens einfach nur zu benennen?
In der Zeit der Französischen Revolution, als der Liberalismus, der Kapitalismus, noch unschuldig war, als seine freiheitsliebenden Philosophen die Welt neu zu sehen lernten, hatte Immanuel Kant geschrieben: »Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.« Ein paar Jahrzehnte später war der Kapitalismus mit seiner Industrie schon weit fortgeschritten. Da hat Karl Marx das Prinzip von Immanuel Kant fortgeschrieben, nämlich so: »Selbst eine ganze Gesellschaft, eine Nation, ja alle gleichzeitigen Gesellschaften zusammengenommen, sind nicht Eigentümer der Erde. Sie sind nur ihre Besitzer, ihre Nutznießer, und sie haben sie als boni patres familias den nachfolgenden Generationen verbessert zu hinterlassen.« Marx fügte hinzu: »Vom Standpunkt einer höheren Gesellschaftsformation wird das Privateigentum einzelner Individuen am Erdball genau so abgeschmackt erscheinen, wie das Privateigentum eines Menschen an einem anderen Menschen.«
Nun werden wir unseren Mitbürgern, den Nutznießern der Erde, nicht die Pistole auf die Brust setzen, wie man das im Krimi sieht. Aber im Sinne von Immanuel Kant sind wir verpflichtet, ihnen ins Gewissen zu reden: Wir haben als boni patres familias, als Väter und Mütter unseren Nachkommen, die Erde verbessert zu hinterlassen. Das heißt Einschnitte zu machen an den bisherigen Formen des Wachstums, die von den Herrschenden ihrer Macht wegen gewollt sind. Das heißt auch zu fragen: Können wir, dürfen wir die bisherigen Formen des Wachstums austauschen gegen ein Wachstum mit dem Etikett »Gutes Leben«?
Was heißt »gutes Leben« und was kann es nicht heißen? Wie viel Benzin darf ein Auto verbrauchen? Wie oft dürfen wir ein Flugzeug benutzen? Können wir zulassen, dass jeder Haushalt zwei Kilo Papier pro Woche ins Haus bekommt, die zum Kauf von immer mehr Sachgütern aufhetzen? Können wir da einfach nur sagen: Jeder Mitbürger möge unter »gutem Leben« verstehen, was er will? Wie viel Spielraum dürfen wir uns leisten? Die absolute Liberalität gegenüber dem »guten Leben« – entspringt sie nicht derselben Quelle wie das Kapital, das mit liberalem Gestus die große Industrie zur Bedrohung unserer Erde gemacht hat?
Alle diese Fragen sind auch moralisch, sittlich unabweisbar geworden, seit Immanuel Kant das »Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft« entwickelt hat, das auch unter dem Namen »Kategorischer Imperativ« bekannt geworden ist. Neunzig Jahre später hat Karl Marx Kants »Grundgesetz der reinen praktischen Vernunft« zugespitzt zum Kategorischen Imperativ zur Bewahrung unserer kosmischen Heimat. Schließlich hat noch mal hundertzwanzig Jahre später der Soziologe Oskar Negt einem breiten Publikum die Koinzidenz von Immanuel Kant und Karl Marx vor Augen geführt. Auch Negts Jugendfreund Gerhard Schröder musste sich das anhören. Der Text wurde im Steidl-Verlag veröffentlicht unter dem Titel »Kant und Marx – Ein Epochengespräch«. Doch zuvor war schon mehr als ein Jahrhundert Zeit, die Konsequenzen der liberalen Wirtschaftsentwicklung zu bedenken.
Wenn wir auf den Prüfstand stellen, was »gutes Leben« heißen sollte und was nicht, dann können wir uns auf die Brust schlagen und zufrieden werden, dem Grundgesetz der praktischen Vernunft, dem Sittengesetz gemäß zu leben. Damit beginnt das »gute Leben«. Wir können viel Genuss gewinnen. Wir brauchen nur zu unterscheiden zwischen Reichtum im Sinne der Kapitalgesellschaft, dem Kapitalo-Reichtum, und andererseits dem menschlichen Reichtum, mit dem jeder glücklich sein kann, falls er versteht, seinen Kopf zu gebrauchen in menschlich-sittlichem Sinne.
In diesem Sinne wird von Oskar Negt ein Dreisprung vorgeführt: Freiheit kann nur gedeihen, wenn jeder seinen Kopf gebrauchen kann. Jeder kann nur dann seinen Kopf gebrauchen, wenn ihm »ein hohes Maß von Wissen zur Verfügung steht«. Und Wissen heißt, die Folgen des eigenen Handelns oder Zögerns beurteilen zu können. Das entspricht den Freiheitsauffassungen von Hegel, Marx und Engels. Da sieht es nicht gut aus mit der Freiheit in der Bundesrepublik, denn hier wird fast alles den betriebswirtschaftlichen Zwängen unterworfen. Dann heißt es gar noch, das wäre »alternativlos«.
Um ins Reich der Freiheit zu gelangen, brauchen wir den Zugang aller unserer Mitbürger zum Wissen, zum Denktraining, vor allem zum humanistischen und nicht nur betriebswirtschaftlichen Wissen, zum Begreifen der Folgen allen Handelns. Lernen und Verfügbarkeit von Wissen ist Teilhabe an Errungenschaften der Menschheit. Man kann der Kultur anderer Völker die gebotene Ehrfurcht erweisen, indem man sich auf Bücher einlässt statt auf Flieger, Kerosin und Reise-Büro. Errungenschaften der Menschheit kennenzulernen, beginnt schon mit dem Interesse an den Fähigkeiten unserer Mitbürger, die einen anderen Beruf erlernt haben als wir selber. Was ist da nicht alles an Fähigkeiten versammelt!
Neugier, Verstehen und Begreifen, Lernen und Wissen kann zum Genuss werden, beginnend in Familien und Kindertagesstätten. Damit das in großem Maßstab geschehen kann, sind erhebliche soziale Probleme zu lösen. Darin brauchen wir immenses Wachstum. Auch die staatliche Selektion der Schulkinder muss überwunden werden. Endlich müssen die Studiengebühren abgeschafft und das Bafög muss aufgestockt werden. Statt eine Menge zu haben, gewinnen Menschen an Fähigkeit, die Welt zu genießen. Damit alle Menschen die Fähigkeit dazu erwerben, brauchen wir beträchtliches Wachstum der Staatsausgaben für Bildung und Fortbildung. Dann gewinnen wir auch Millionen Mitbürger für die ökologische Transformation. Anders wird es überhaupt nicht gehen. Und wir brauchen die 30-Stunden-Woche für alle Erwerbsfähigen, damit sie Zeit gewinnen für ihre Familie und zum Lernen. Die 30-Stunden-Woche mit vollem Entgelt-Ausgleich, die 30-Stunden-Woche, um die Verhältnisse umzukehren auf dem Arbeitsmarkt. Dort müssen wir uns rar machen. Wir haben eine menschliche Welt zu gewinnen.
Rainer Thiel, 1930 in Chemnitz geboren, forscht und praktiziert auf sensiblen Gebieten, gestützt auf Philosophie, auf Mathematik und auf praktische Erfahrungen in mehreren Berufen. Seine jüngsten Bücher heißen »Allmähliche Revolution – Tabu der Linken« (2009) und »Neugier – Liebe – Revolution. Mein Leben 1930–2010«. Thiel engagiert sich in sozialen Protestbewegungen. Bei Attac ist er Mitbegründer der Arbeitsgemeinschaften »Arbeitszeitverkürzen/Arbeit-Fair-Teilen« und »Transformation statt Wachstum«. www.thiel-dialektik.de
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