Jeder zehnte Autounfall soll gar keiner sein
ND-Serie: Welche Versicherungen Sie wirklich brauchen (Teil 4)
Den Schaden durch Betrug schätzen die Versicherer in Deutschland auf vier Milliarden Euro jährlich. Nach schwarzen Schafen suchen die Unternehmen mit Hilfe einer ausgeklügelten »Wagnisdatei«. Verbraucherschützer kritisieren dies als Rasterfahndung. Die meisten Kunden wissen nicht, dass sie auf dieser Liste stehen. Dabei benutzt die Versicherungswirtschaft seit 1993 die Warndatei mit dem Namen »Uniwagnis«. In dieser Datenbank sind Informationen über vier Millionen Menschen eingespeist – und die Daten von -zig Millionen Fahrzeugen.
Verluste in Milliardenhöhe
Etwa jeder zehnte Autounfall ist gar keiner – jedenfalls geht die Versicherungswirtschaft davon aus. Zwischen acht und zehn Prozent aller gemeldeten Schäden in der Kraftfahrzeughaftpflicht sollen manipuliert sein. Gar jeder dritte gemeldete Laptopschaden in der Hausratversicherung soll mit betrügerischer Absicht erfolgen.
Durch Betrug entsteht laut Assekuranz allein in der Kraftfahrtsparte jährlich ein Verlust von über einer Milliarde Euro. Insgesamt wird der Schaden durch solchen amateurhaften Betrug auf mehr als vier Milliarden Euro beziffert. Zu dieser Summe tragen allerdings auch professionelle Banden bei, die systematisch versuchen, Versicherer abzuzocken. »Tendenz steigend«, hieß es beim Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft (GDV) in Berlin. Doch das war vor einer Dekade. Aber auch heute spricht die Branche immer noch von einem Betrugsschaden in Höhe von vier Milliarden Euro. Offensichtlich, so darf aus diesen Zahlen geschlossen werden, stagniert der Versicherungsbetrug.
Trotzdem oder gerade darum wappnet sich die Branche weiterhin mit einem umfangreichen Maßnahmenkatalog, der von der speziellen Mitarbeiterschulung in Seminaren bis zum bundesweiten Informationssystem Uniwagnis reicht, in dem mehr oder wenige verdächtige Fälle und abgelehnte Vertragsanträge millionenfach abgespeichert werden. Mit Hilfe von Computern und Software versucht die Assekuranz, in den Personen- wie in den Schadensparten Schummeleien aller Art aufzudecken und zu verhindern.
Keine schwarze Liste?
Jeder Schadenfall wird vom Versicherungsunternehmen – unabhängig von einem möglichen Betrugsverdacht – überprüft und anhand eines Kriterienkatalogs nach Punkten bewertet. Negativpunkte gibt es beispielsweise für den Zusammenstoß zweier Autos in einer einsamen Straße oder für einen totalen Brandschaden des Eigenheimes. In der Rechtsschutzversicherung werden Kunden registriert, die drei oder vier Schadensfälle in einem Jahr gemeldet haben. Über die genauen Kriterien schweigt sich die Assekuranz aus, um Betrügern das Leben so schwer wie möglich zu machen.
»Wir führen keine schwarze Liste«, versichert die Branche schon seit Einführung von Uniwagnis im Jahre 1993. Damals wurde übrigens der europäische Binnenmarkt für Versicherungen eröffnet. Uniwagnis sei lediglich »ein Hinweissystem«. Gerade deswegen führen aber eher alltägliche und harmlose Vorkommnisse zu einer Meldung. So kann es beispielsweise genügen, Zeuge eines Verkehrsunfalls geworden zu sein. Auch abgelehnte Anträge, etwa für eine Lebensversicherungspolice, werden kritisch notiert.
Heute gehen die Infos an das HIS
Weist ein »Fall« eine bestimmte Punktzahl auf, wird er vom Unternehmen an die Uniwagnis-Zentrale gemeldet. Früher war diese beim GDV angesiedelt. Heute übernimmt das ein eigenständiges Dienstleistungsunternehmen. Die Daten werden von dort an die anderen hundert Unternehmen geliefert, die ans »Hinweis- und Informationssystem« (HIS) angeschlossen sind, wie Uniwagnis neuerdings heißt.
Die Versicherungsunternehmen können mit diesen Informationen alle eingehenden Neuanträge und Schadenmeldungen automatisch abgleichen. Im Zweifelsfall kann sich ein Unternehmen mit anderen Gesellschaften kurzschließen, die beim selben Kunden schon Verdacht geschöpft hatten. Anschließend prüfen Sachbearbeiter oder spezielle Abteilungen betroffene Schadenmeldungen, erstatten gegebenenfalls Anzeige oder lehnen Verträge ab. Im Fall eines Eintrags müssen Sie also damit rechnen, dass ein Versicherungsantrag abgelehnt wird. Jedem siebten Kunden mit einem HIS-Eintrag soll dies bereits passiert sein.
In den bundesweiten Pool sind seit Mitte der neunziger Jahre nach und nach ein Dutzend kleinere und größere Warndateisysteme eingeflossen. Seit 1998 hat sich die Datenmenge schließlich vervielfacht. Vertragsablehnungen und Schadenmeldungen werden nämlich seither grundsätzlich skeptischer beäugt als zuvor. Inzwischen sollen vier Millionen Datensätze von Personen abgespeichert sein. Positiv: Es sind eine Million »Fälle« weniger als vor zehn Jahren.
Und das Datenschutzgesetz?
Dessen ungeachtet entspricht eine Rasterfahndung á la Uniwagnis den Anforderungen des Datenschutzgesetzes. Solchen Warndateien stehe man zwar kritisch gegenüber, heißt es beim Datenschutzbeauftragten, aber gesetzlich spreche nichts dagegen. Unglücklich sind die Verbraucherschützer. Grundsätzlich sei die Verfolgung »schwarzer Schafe« unter den Versicherungskunden zwar durchaus im Interesse der ehrlichen Versicherten, schließlich treibt der massenhafte Betrug die Prämien nach oben. Aber vor allem die Sammelleidenschaft der Assekuranz wird kritisiert, weil zu viele Daten unbescholtener Bürger gesammelt werden. Zudem sollten die Daten höchstens ein Jahr gespeichert werden. Gelöscht werden die Daten heute erst nach fünf Jahren. Rundum zufrieden ist dagegen die Assekuranz. Uniwagnis habe sich bewährt. Vor allem sei man vielen betrügerischen Serientätern auf die Schliche gekommen.
Seit zwei Jahren gilt, dass Versicherte eine Nachricht erhalten sollen, sobald sie dem HIS gemeldet werden. Auch haben Kunden die Möglichkeit, beim Betreiber postalisch anzufragen, ob sie eingetragen sind (HIS, Rheinstraße 99, 76532 Baden-Baden; fügen Sie eine Ausweiskopie bei).
Teil 5 in der nächsten Woche: die gesetzliche Krankenversicherung
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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