Utopias Scheitern?

Stefan Wolle über DDR-Alltag

  • Stefan Bollinger
  • Lesedauer: 4 Min.

Alfons Zitterbacke, Knirps Nimmerklug, Wolf Biermann, Robert Havemann und »Faust« – eine solche vielgestaltige Erkundung der DDR zwischen Mauerbau und Niederschlagung des »Prager Frühlings« verspricht eine bunte, kurzweilige Sicht auf jene Periode, für die Stefan Wolle den »Versuch einer entschlossenen Reform von oben« konzediert. Sie setzte »menschliche Ressourcen frei«, konstatiert der Berliner Historiker. »Ein Teil der wissenschaftlich-technischen Intelligenz und der Wirtschaftsfachleute war bereit, sich mit ihren Fähigkeiten für den neuen Kurs einzusetzen, dem Sozialismus also eine Chance zu geben.«

Wolle schildert politische und intellektuelle Prozesse, die vorgebildete Leser manchmal mit Schmunzeln, öfter jedoch mit Stirnrunzel in die 60er Jahre zurückversetzen. Da wird beispielsweise an die forschen Ziele im Geiste des KPdSU-Programms von 1961 erinnert, an die »randalierenden« Leipziger Beatfans und die fatalen Folgen des 11. Plenums der SED. Das Verdikt gegen Peter Hacks Stück »Die Sorgen und die Macht« oder die Faust-Inszenierung von Wolfgang Heinz kontrastieren und korrespondieren zu Berichten über eine sich zwangsweise von Kartoffeln auf Nudeln umorientierende Bevölkerung, weil es mal wieder mit der Planwirtschaft nicht klappte.

Wolles Leitidee mag man zustimmen: »Die Vergangenheit wird mit wachsendem Abstand nicht unwichtiger oder unwirklicher, sondern sie gewinnt an Wichtigkeit und Wirklichkeit.« Bei genauerem Hinsehen entpuppt sich sein vorgeblich buntes Bild der DDR-Wirklichkeit jedoch als eher grau. Und dies liegt im Schwarz-Weiß-Denken begründet, das vorzuwerfen dem in der DDR sozialisierten Historiker nicht erspart bleiben kann. Berechtigt kritisiert Wolle die einstige »Märchenwelt der kommunistischen Propaganda«, die »fein säuberlich in Gut und Böse geteilt« habe. Doch bleiben bei ihm die historischen Rahmenbedingungen und der Zeitgeist konturlos. Reaktionen aus der DDR auf Aktionen und Verführungen des Westens werden mit entrüstetem Unterton geschildert.

Überhaupt bleibt bei Wolle das Gebilde DDR unerklärlich. Was nicht verwundert ob des Propagierens der Totalitarismustheorie und seines Bannstrahls gegen moderate Ost-Forscher im Westen seit den 1970er Jahren, die sich einer systemimmanenten Methode verpflichtet fühlten. Das betrifft den Platz der DDR im Kalten Krieg mit einem zähen, nicht nur in Ulbrichts Einbildung existierenden Überlebenskampf mit Bonn. Überzogene Feindbilder und unangemessene Reaktionen der SED wie auch unrechte Maßnahmen des MfS gehören kritisiert, aber es war nimmer alles nur Fiktion. Ebenso verkennt Wolle die feste Einbindung der DDR in den sowjetischen Block mit Bevormundung, aber auch Solidarität sowie Konkurrenz, etwa zu Polen oder der CSSR.

Natürlich: »Der gefährlichste Gegner des Reformpolitikers Ulbricht war der Machtpolitiker Ulbricht.« Aber für die widersprüchlichen Seiten seiner Person wie auch die Janusköpfigkeit des realen Systems gab es Gründe und Begründungen. Es fällt auf, dass die Dialogansätze der SED/DDR mit dem Westen in diesem Buch unterbelichtet sind, so der angestrebte und angeschobene Redneraustausch 1966 mit der SPD oder die deutsch-deutschen Gipfeltreffen von 1970 in Erfurt und Kassel. Da hätte Wolle neue Einsichten und alte Ängste beider Seiten und den dunklen Part Moskaus wie auch der Falken in der SED-Spitze thematisieren müssen. Das wollte er offenbar nicht.

Bürger wie Politiker der DDR werden in diesem Buch auf die Rolle von »Komparsen« zurechtgestutzt. Oberflächlich ist der Blick auf »die Herrschaften«, die danach gierten, »über rote Teppiche zu schreiten« (gemeint ist hier die internationale Anerkennung der DDR). Ungenügend die Feststellung, dass Intellektuelle und Studenten in der DDR nicht mehr »graue Arbeitsameisen« sein wollten. Das NÖS war eine Revolution »von oben«, fand aber Zustimmung »unten«. Das Verprellen der Intellektuellen vermag Wolle zu beschreiben, doch reale Konflikte und Widersprüche einer sich sozialistisch nennenden Gesellschaft mit Marktorientierung, die gewissen Zwängen unterlag und deren Existenz durchaus bedroht war, ist seine Sache nicht. Die DDR ist für Wolle auch in der kurzzeitigen Phase des Reformaufbruchs inakzeptabel.

Mit erhobenem Zeigefinger spricht er jeder Alternative zum Kapitalismus Erfolgchancen ab: »Die Insel Utopia aber wird existieren, solange sie gesucht wird. und sie wird zugrundegehen, wenn Eroberer ihre Fahne dort aufpflanzen, um das Eiland ihrem irdischen Reich einzuverleiben.« Nein. Wenn der Schritt von der Utopie zur Wirklichkeit gegangen wird, kann Utopie beflügeln. Man muss die Mühen der Ebenen auf sich zu nehmen bereit sein.

Stefan Wolle: Aufbruch nach Utopia. Alltag und Herrschaft in der DDR 1961-1971. Ch. Links Verlag, Berlin 2011. 440 S., geb., 29,90 €.

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