• Reise
  • 9. ND-LESERGESCHICHTEN-WETTBEWERB

Mit Räuber Hotzenplotz durch Hamburg

  • Lesedauer: 4 Min.
Otfried Preußler, »Der Räuber Hotzenplotz«, Thienemann Verlag, ISBN 978-3-522-10590-3, 11,90 €
Otfried Preußler, »Der Räuber Hotzenplotz«, Thienemann Verlag, ISBN 978-3-522-10590-3, 11,90 €

Vor vier Jahren, kurz vor meinem sechzigsten Geburtstag, zog ich von Berlin nach Hamburg, denn ich hatte dort eine neue Liebe gefunden. Mein ND-Abo nahm ich mit, es gab meinem Mann und mir immer wieder gute Anregungen für politische Ost-West-Streitgespräche. Das Eingewöhnen war trotzdem nicht einfach, mir fehlten meine Freunde, das Berliner Tempo und vor allem die besonderen Kulturangebote.

Immer wieder sprachen wir darüber, wie schön es doch wäre, wenn Enkelkinder zu Besuch kämen, aber leider gab es dafür bisher keine Anzeichen. Meine beiden Söhne in Berlin waren mit ihrem beruflichen Fortkommen bzw. der Suche nach der richtigen Partnerin beschäftigt.

Eines Tages bewarb ich mich auf eine Anzeige als Babysitterin. Ein vierjähriger Junge namens Max und ein dreijähriger Pauli mussten vom Kindergarten abgeholt und beaufsichtigt werden, während ihre Mütter gemeinsam einer selbstständigen Tätigkeit nachgingen. Als ich mich vorstellte, hatte ich sofort ein gutes Gefühl. Max sah mich nachdenklich an und fragte: »Bist du eigentlich eine sehr alte Oma?« Ich erklärte, dass ich eigentlich noch gar keine Oma sei, weil ich noch keine Enkelkinder hätte und beide nickten verständig. Zu ihren Eltern sagten sie: »Ja, die können wir nehmen!«

Von nun an kreisten meine Gedanken um Spiele, die bei meinen eigenen Kindern besonders beliebt waren, und ich suchte die alten Kinderbücher hervor, die ich wohlweislich aufbewahrt hatte. Obwohl Max und Pauli selbst eine Menge Bilderbücher besaßen, wollten sie immer wieder etwas aus einem unscheinbaren, zerfledderten Band aus dem Verlag Volk und Wissen hören, den »Erzählungen für Vorschulkinder«, herausgegeben 1981 von Annemarie Lesser. Am besten gefiel ihnen »Die Schildkröte hat Geburtstag« von Elisabeth Shaw, gefolgt von »Bei der Feuerwehr wird der Kaffee kalt« von Hannes Hütter. Bald kannten sie die Geschichten auswendig, und wir spielten sie mit verstellten Stimmen nach. Die Geschichten beflügelten ihre Fantasie enorm.

Als ich die Beiden eines Tages aus dem Kindergarten abholte, fiel dem aufmerksamen Pauli auf, dass der Maschendrahtzaun zur benachbarten Grundschule niedergetrampelt war. »Hier ist bestimmt heute Nacht der Räuber Hotzenplotz herumgeschlichen«, überlegte ich laut und ahnte noch nicht, was ich damit angerichtet hatte. Beide waren wie elektrisiert und wollten sofort wissen, was so ein Räuber alles macht, wo er wohnt, wie er aussieht, wie stark er ist, was er alles hoch heben kann.

Zu Hause angekommen, fingen die Jungs sofort an, sich eine Höhle zu bauen und planten Raubzüge für die kommende Nacht. Sie suchten im Keller nach Taschenlampen und einem Sack, in den sie ihre geraubten Schätze füllen könnten. Ich hatte Angst, dass dieses Spiel die Jungen zu sehr aufregt und erklärte ihnen, dass Hotzenplotz ein ziemlich dummer Räuber sei, den sogar Kinder überlisten könnten. Davon gäbe es auch einen Film. Wir schauten uns bald darauf den Film mit Katharina Thalbach und Armin Rohde an und spielten ihn nach.

Der Räuber Hotzenplotz wurde unser ständiger Begleiter. Pauli fragte mich bei jeder Begegnung, ob ich was von »Hotzenklotz« – so bezeichnete er ihn – gehört hätte, und ob wir ihn nicht mal anrufen könnten. Eine Zeit lang konnte ich ihn vertrösten, dann wurde Pauli böse: Jeder hätte doch heute ein Handy, also könnten wir ihn doch anrufen. Schließlich weihte ich meinen Sohn in Berlin ein, er war bereit, den Hotzenplotz zu spielen. Wir riefen an, Pauli und Max plauderten eine Weile mit ihm, beantworteten artig alle Fragen, dann war endlich Ruhe.

Max hatte wohl bald darauf erkannt, dass Hotzenplotz erfunden ist, denn als Pauli wieder einmal beharrlich nach dem Räuber fragte, gab er an meiner Stelle Auskunft: »In der Zeitung stand, dass er nur noch zwei Kindergärten in Norderstedt überfallen will, dann macht er Schluss!«

Inzwischen hat auch Pauli die Fragerei aufgegeben, beide Jungs gehen nun zur Schule. Nicht mehr lange werde ich als Ersatzoma gebraucht werden.

Mein Mann ist ein wenig traurig, denn er genoss es, wenn ich bei unseren morgendlichen Kaffe-im-Bett-Gesprächen von Max und Pauli erzählte. Aber – inzwischen ist ein richtiges Enkelkind auf der Welt, noch zu klein für Besuche in Hamburg, aber ich bin vorbereitet. Auch für das zweite Enkelkind des anderen Sohnes, das noch in diesem Jahr zur Welt kommen wird.

Helga Niestroj, 22393 Hamburg

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