Hart am Wind bis rauf nach Gedser
Mit dem Zweimastschoner »J. R. Tolkien« von Rostock über die Ostsee und weiter per Velo zum Südzipfel Dänemarks
»Habt ihr Kotztüten an Bord?« Jaap van der Rest grinst übers ganze Gesicht: »Also, wenn jemand, das dringende Bedürfnis hat, sich das Frühstück noch mal durch den Kopf gehen zu lassen, dann immer nach Lee, niemals nach Luv. Das spart Reinigungskosten. Klar, Leute?« »Ey, ey Käptn!«, brüllt ein Vorwitziger, obwohl er genauso wenig wie die meisten anderen weiß, auf welcher Seite des Seglers er sich im Notfall über die Reling hängen soll.
Noch aber sind alle bester Laune, auch wenn der Wind an diesem Morgen die Wellen der Ostsee sehr energisch vor sich hertreibt. Bestes Segelwetter also für den Zweimastschoner »J. R. Tolkien« und Skipper Jaap van der Rest, der gemeinsam mit seiner vierköpfigen Crew und rund 40 »Frischlingen« von Rostock nach Gedser an die südlichste Spitze Dänemarks segeln will. Zeitgleich startet der Schoner »Santa Barbara Anna« – beide werden sich die nächsten vier Stunden lang ein Rennen liefern. Beide Mannschaften geben sich siegesgewiss, wenn auch die Laien auf der »J. R. Tolkien« im Stillen eher auf einen Triumph der Gegner wetten würden. Denn immerhin hat die »Santa Barbara Anna« drei Masten und kann demzufolge auch mehr Segel setzen.
Anfangs sieht es auch tatsächlich so aus, doch nach der halben Strecke zieht die Tolkien unter Gejohle ihrer Passagiere an der Konkurrenz vorbei und lässt sie bald chancenlos abgeschlagen hinter sich. »Gut gemacht«, ruft der holländische Skipper seiner Crew zu. Jetzt hat er auch endlich Zeit, den Hilfsmatrosen etwas über seine »alte Dame« zu erzählen, die in ihrem ersten Leben – das 1964 auf der Elbewerft Magdeburg begann – ein Schlepper war und »Dierkow« hieß. Als der Anfang der 90er Jahr schrottreif ausgemustert wurde, erfüllte sich der Holländer einen Lebenstraum, kaufte den Schlepper und verwandelte ihn in drei Jahren mit viel Geschick, Liebe und einem hübschen Sümmchen in ein luxuriöses Segelschiff. Seit 14 Jahren nun nimmt der 42 Meter lange Zweimastschoner Gäste mit auf große und kleine Reisen. Elf Kabinen bieten 32 Personen Unterkunft, bis zu 90 Personen können auf Tagestörns gehen. Wer von den Gästen Lust hat, ist immer willkommen, selbst beim Segel setzen und um bei den Manövern Hand anzulegen.
An diesem stürmischen Tag jedoch sind die meisten froh, wenn sie einigermaßen festen Boden unter den Füßen behalten. Den Aufstieg in die Takelage überlassen sie gern den robusten Seebären. Lange dauert es dann auch nicht, bis die erste zur Reling schwankt – Zeit, darüber nachzudenken, wo und was nun Lee ist, bleibt ihr nicht. Doch sie hat Glück im Unglück, der Wind kommt von hinten, was heißt, sie füttert die Fische von der richtigen Seite aus.
Nach vier Stunden temperamentvollen Wellenritts holt die Crew die Segel ein und macht als Sieger im Gedser Hafen fest. Von der »Santa Barbara Anna« ist bis zum Horizont nichts zu sehen. Später wird der Skipper erzählen, dass der stürmische Wind das unter vollen Segeln fahrende Schiff regelrecht vom Kurs abgetrieben hat.
In Gedser steigen die Passagiere auf Zweiräder um, Ziel ist der südlichste Punkt Dänemarks und gleichzeitig Skandinaviens, wenige Kilometer vom Hafen entfernt. Wer bislang meinte, der 800-Seelen-Ort sei nichts weiter als ein Anlegeplatz der zwischen Deutschland und Dänemark im Linienverkehr fahrenden Scandlines-Fähren, wird schnell von Grøndal Hansen, einem ehemaligen Lehrer, eines Besseren belehrt. Seit der Pensionierung zeigt er gern Gästen seine Heimatregion. Da der 77-Jährige das genauso leidenschaftlich macht, wie er einst Schüler unterrichtete, dauert es seine Zeit, ehe die vom Hafen etwa sechs Kilometer entfernte Südspitze erreicht ist.
1886 wurde Gedser mit Kopenhagen per Schiene verbunden, erzählt er, davon kündet noch heute das einst prachtvolle Bahnhofsgebäude gleich neben dem Fährhafen. Von 1903 bis 1995 überquerten die Züge sogar die Ostsee, eine spezielle Eisenbahnfährlinie wurde eingerichtet, erst nach Warnemünde, später bis zum Überseehafen Rostock. Nur im Kalten Krieg gab es eine »Umleitung« nach Großenbrode in Schleswig-Holstein. Seit 1990 geht's wieder direkt mit Scandlines nach Rostock, die Eisenbahnfähren allerdings wurden vor 16 Jahren aus Rentabilitätsgründen eingestellt.
Wenige Minuten vom Fähranleger entfernt radelt man an der schönen, erst knapp 100 Jahre alten Kirche vorbei, die leider außerhalb der Gottesdienste geschlossen bleibt. Anders als das »Schwarze Museum« mit einer riesigen Sammlung von Fossilien, Mineralien und Bernsteinen, die an den nahen Küsten gefunden wurden. Außerdem kann man hier neben einer großen Spezialsammlung von Quarzen und Mineralien aus aller Welt den angeblich größten geschliffenen vierstrahligen Sternalmandin mit 2405 Karat bewundern.
Weiter führt die Tour immer parallel zur Ostsee über bügelbrettflaches Land – die höchste Erhebung der Insel Falster, zu der Gedser gehört, misst 44 m ü. NN. Da kann man sogar noch einigermaßen entspannt in die Pedale treten, wenn der Wind scharf von vorn bläst. Weder eine Karte noch GPS sind notwendig, um nicht vom richtigen Weg abzukommen. Man muss lediglich wissen, dass die Südspitze Skandinaviens nur einen Katzensprung vom »Gedser Fyr«, dem längst außer Dienst gestellten Leuchtturm, entfernt liegt. An dem muss man vorbei und sollte keinesfalls versäumen hinaufzusteigen, wenn man das Glück hat, zufällig an einem der leider viel zu wenigen Tage im Jahr vorbeizukommen, an denen er für Besucher geöffnet ist. 50 Kilometer soll die Sicht bei schönem Wetter betragen. Gebaut wurde er 1802 als einer der ersten Dänemarks und noch bis 1846 mit Holzkohle betrieben.
Gleich neben dem Leuchtturm gibt es eine Vogelwarte, wo Zugvögel, die dort in großer Anzahl Zwischenstation auf dem Weg in den Süden machen, beringt werden. Wer Lust hat, kann hier nach Absprache nicht nur übernachten, sondern auch den Ornithologen bei der Arbeit helfen.
Nun noch einmal kurz in die Pedale getreten, und dann ist die südlichste Stelle Nordeuropas erreicht – die »Gedser Odde« auf 54° 33' 34'', 7 Nördlicher Breite und 11° 58' 14", 6 Östlicher Länge. So steht's auf einem gewaltigen Stein, der den Punkt markiert. Den vier Tonnen schweren eiszeitlichen Gneis, dessen Alter auf rund eine Milliarde Jahre geschätzt wird, fand man unweit am Strand und stellte ihn am 25.5.1990 auf. Vorher war der Südzipfel des Landes für Normalsterbliche jahrzehntelang nicht zugänglich. Noch heute sieht man die Reste der von den Deutschen hier 1941 errichteten Flugabwehreinrichtung. Ab 1947 nutzten die Dänen den Ort als Marinestation zur Beobachtung jeder Schiffsbewegung. Mit dem Ende des Kalten Krieges verschwand die Militäranlage. Heute kommen Einheimische wie Touristen zum Picknick, genießen die Natur, den weiten Blick übers Meer und kitschig-schöne Sonnenuntergänge.
Die radfahrenden Hilfsmatrosen allerdings müssen sich nun sputen, denn bald legt die Fähre ab, die sie bequem in nur 90 Minuten nach Rostock zurückbringt.
- Infos: VisitDenmark, Postfach 70 17 40, 22017 Hamburg, Tel. (01805) 32 64 63, www.visitdenmark.com
- J. R. Tolkien: Van der Rest Charter, Horster Damm 351, 21039 Hamburg, Tel.: (040) 72 91 98 78, www.restchart.com
- Fähre: Scandlines, Am Bahnhof 3a, 18119 Rostock, Tel.: (01802) 11 66 99, www.scandlines.de
- Fahrradverleih und Info Gedser: Den gamle Købmandsgård, Gedser Landevej 79, www.gedsercykeludlejning.dk; www.gedser.net (auch deutsch)
- Vogelwarte Gedser: www.gedserfuglestation.dk
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