- Reise
- 9. ND-Lesergeschichten-Wettbwerb
Eine bärige Zugfahrt
Petra Spieler aus Oelsnitz
Da mein Auto kurzfristig zur Reparatur musste, machte ich mich zu Fuß auf den Weg zum Bahnhof. Wegen so einem komischen Stofftier mit dem Zug extra nach Zwickau fahren zu müssen, war mir nicht so richtig klar. Wozu gibt es denn eine Post? Aber ich hatte nun mal versprochen, das Plüschtier für die beiden Enkelkinder dort abzuholen.
Auf dem heruntergekommenen Bahnsteig in Oelsnitz dachte ich an die Jahre, wo man auf dem kleinen Bahnhof seine Fahrkarte kaufen und warm und trocken auf den Zug warten konnte. Gedankenverloren sah ich auf die teilweise zerschlagenen und vernagelten Fenster der früher sehr beliebten Bahnhofsgaststätte. Was für ein Fortschritt!
Ich erschrak, als mich das Geräusch des erstaunlicherweise pünktlich einfahrenden Zuges aus meinen Grübeleien riss. »Also, nein, jetzt sparen die sich auch noch die Ankündigung des einfahrenden Zuges«, sagte ich zu dem neben mir stehenden Fahrgast. Der zog nur die Schultern nach oben und stieg vor mir in den Wagen. Lackaffe! Von Höflichkeit hat der auch noch nichts gehört, dachte ich verärgert.
Schon ein wenig missmutig fragte ich ein junges Mädchen, ob der Platz ihr gegenüber noch frei sei. Warum der Teenager nicht reagierte, verstand ich erst, als ich die Stöpsel in ihren Ohren und das winzige Ding in ihrer Hand bemerkte. Na, gut, ich hatte sowieso keine Lust ein Gespräch zu führen. Keiner der Anwesenden unterhielt sich. Es war irgendwie trostlos.
In Zwickau angekommen dauerte es nicht lange, bis ich den kleinen Laden gefunden hatte. Die Verkäuferin bot mir einen Platz an. Dass ich den Stuhl tatsächlich dringend benötigte, wurde mir klar, als sie mir das bewusste Stofftier hereinschleppte. Ein dicker Teddybär, fast in Lebensgröße, hellblau und weiß, mit einem freundlichen runden Gesicht und braunen gläsernen Knopfaugen. Die zierliche junge Frau dahinter war kaum zu sehen. »Oh Gott, was ist denn das für ein riesiges Monstrum? Wie soll ich da im Zug nach Hause noch Platz finden?«, fragte ich nun doch etwas belustigt, als ich in das freundliche Gesicht des Teddys blickte und daneben die Verkäuferin hervorlugen sah. »Ich fahre sie wenigstens zum Bahnhof«, sagte diese und drückte mir das dicke Etwas an die Brust. Dort angekommen schlenkerte ich meine Umhängetasche über den Kopf, legte beide Arme um die umfangreiche Taille des Bären und schloss meine Hände vorn auf dessen Bauch.
So lief ich, den Kopf zumeist nach rechts haltend, um den Weg vor mir noch zu erkennen, zum Zug. Aber was war da los! Der Bahnsteig war voller Menschen! Ich fragte den mir am nächsten stehenden jungen Mann, ob der Zug etwa ausfallen würde. Der blickte lachend in das Gesicht meines bärigen Begleiters: »Nee, gude Frau, das ham mir schon hinder uns. Mir musstn aus unserm wegn eener Havarie aussteign und wardn nun offn nächsten. An volle Züche sinn mor gewöhnd, das könnse mir glom«, antwortete der in perfektem Sächsisch, und ergänzte: »Sie ham hoffendlich for ihrn Dicken da och ne Fahrgarte gelöst.«
»Spaßvogel«, sagte ich und drückte mich vorsichtig zwischen den Massen durch, damit ich wenigstens weiter vorne stand. Komisch, dass keiner meckerte. Jeder, an dem ich vorbei lief, sah belustigt auf meinen Begleiter, und machte mir Platz.
»He, lasst mal die Mutter mit ihrem Kleinkind durch. Das dicke Ding muss ins Bett«, tönte ein Kerl wie ein Baum und stachelte damit die Menschen in der näheren Umgebung an, ebenfalls ihre Witzchen zu machen. Irgendwie fühlte ich mich plötzlich wie zu Hause. Das Lachen der Leute steckte auch mich an, und ich konterte: »Vorsicht, das ist kein Teddy, das ist ein verkleideter Boxchampion!«
»Wie heeßt denn dor Kleene?«, fragte mein Nebenmann. »Na, wie denne, Axel heeßt dor«, konnte ich gerade noch antworten, als der Zug einfuhr. Beim Einsteigen wurde es dann doch etwas hektisch. Ein älterer Herr, der die Stufen zum Wagen schon erklommen hatte, langte nach unten, packte den Teddy am Kopf und zog ihn zu sich hoch. Da ich den Bauch des verkleideten Boxers noch fest im Griff hatte, stand ich, hast du nicht gesehen, neben dem tatkräftigen Herrn. Die Leute schoben nach, und der Abstand der Fahrgäste zueinander wurde immer enger.
»Iss denn dor Boxer mit an Bord?«, wurde von weitem gerufen. »Ja, ja, die Mutti hat ihren Schützling dabei!« rief ihm ein anderer zu. Die Frotzelei nahm kein Ende, bis ich laut sagte: »So, an der nächsten Haltestelle wird wieder Platz, da werden wir uns verabschieden.«
»Ooch, schade«, meldete sich wieder der waschechte Sachse, »sie gönndn mit dor Bahn einen Verdrach für ihren Boxchampion abschließn, da hättn mir heutzudache wenigstns eine gleene Freude am Bahnfahrn!«
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