Der Wille zur Wahrheit kennt seine Grenzen
Der Internationale Strafgerichtshof für das ehemalige Jugoslawien, kurz Jugoslawien-Tribunal, arbeitet unter politischen Vorlagen und die Wahrheitsfindung interessiert seine Richter und Ankläger nur sehr bedingt. Der gigantische und exzellent entlohnte Apparat dieses Tribunals scheint eine Wahrheitssuche zu betreiben, die ein von Politikern und Medien festgelegtes Bild vom blutigen Zerfall Jugoslawiens nun auch strafrechtlich zu beweisen trachtet. Und weil dieses Bild nicht mit den Tatsachen übereinstimmt, kommt es mehrmals vor, dass die Anklage in große Beweisnot gerät – besonders, wenn der Angeklagte sich selber verteidigt und dies auch zu tun versteht. Und dann kann man mehrmals bewundern, wie die Richter zu Assistenten der Anklage mutieren.
Die Protokolle aus dem Milosevic-Prozess und aus dem endlosen Prozess gegen Vojslav Seselj bieten in dieser Hinsicht eine erlebnisreiche Lektüre. Und wenn in einem Strafverfahren die intendierte Wahrheitsfindung umzukippen droht, dann stirbt leider der Angeklagte, wie etwa Slobodan Milosevic, oder es folgen neue und neue Anklagen, und das Verfahren, wie im Falle von Seselj, schleppt sich ins neunte Jahr ohne Aussicht, je ein Ende zu finden, denn ein Freispruch wäre politisch untragbar.
Das Strafverfahren gegen den Kommandanten der bosnisch-muslimischen Truppen in Srebrenica, Naser Oric, endete demgegenüber schnell mit einem Freispruch, und der ehemalige UCK-Kommandant Ramush Haradinaj darf in Freiheit seinen voraussichtlichen Freispruch abwarten. Man müsste sich blind stellen, um in diesen zwei Fällen auch die politischen Vorlagen des Rechtsgangs zu leugnen.
Schon aus diesem Grund wäre es vorzuziehen, Ratko Mladic vor den Internationalen Strafgerichtshof zu bringen, und nicht vor das Jugoslawien-Tribunal. Das wird freilich nicht einmal in Erwägung gezogen. Schließlich sind große Interessen im Spiel, nicht zuletzt die institutionellen Interessen des Tribunals selber. Was die Anklage gegen Mladic betrifft, sie unterscheidet sich im Wesentlichen nicht von der sehr umfangreichen Anklage gegen Radovan Karadzic. An prominenter Stelle steht freilich die Anklage des Völkermordes, und zwar nicht nur der Massenmord im Sommer 1995 in der Region von Srebrenica, sondern in weiteren acht bosnischen Gemeinden während des gesamten Bürgerkriegs. Schon dies allein verspricht eine sehr langwierige Beweisführung der Anklage. Hat ja schon der Internationale Gerichtshof in einem wichtigen und von den Medien gern verschwiegenen Urteil vom 26. Februar 2007 den Tatbestand des Völkermords mit Bezug auf diese Gemeinden abgelehnt. Man will sich offensichtlich über das Urteil dieses Gerichtshofs, immerhin das höchste Rechtsgremium der UNO, schlicht hinwegsetzen.
Aber auch die Beweisführung zum Srebrenica-Völkermord wird nicht einfach sein, und zwar nicht nur, weil der Vorsitzende Richter im Mladic-Prozess, Christoph Flügge, selber in einem »Spiegel«-Interview 2009 gegen die Einstufung der Srebrenica-Morde als Völkermord Stellung nahm. Diese Äußerung hat ihm bereits den Richtersitz im Karadzic-Prozess gekostet, und er könnte es sich jetzt anders überlegen.
Ein wirkliches Problem ist aber der erste und wichtigste Zeuge der Anklage für die Srebrenica-Morde. Drazen Erdemovic heißt der Söldner und Massenmörder, der schon 1996 Karadzic und Mladic belastet hat, auf ihren Befehl im Juli 1995 mit sieben anderen Mittätern 1200 muslimische Gefangene erschossen zu haben. Seine Aussage ist extrem widersprüchlich und sein Werdegang als einziger Dauerzeuge der Anklage für diesen Massenmord ist ein Skandal. Neuerdings hat Karadzic ein Kreuzverhör dieses Kronzeugen beantragt und die Richter haben es prompt abgelehnt. Seine schriftliche Aussage dürfte ausreichen, meint man. Der Wille zur Wahrheitsfindung beim Jugoslawien-Tribunal kennt seine Grenzen, das letzte Wort ist aber hoffentlich noch nicht gesprochen.
Ob aber der gesundheitlich angeschlagene und augenscheinlich dementierende Ratko Mladic dies alles noch bewusst erleben wird? Warum klagt man ihn nicht einfach eines Kriegsverbrechens an, das schnell und überzeugend zu beweisen wäre? Etwa der Beschießung von Sarajevo, zweifelsohne ein schweres Kriegsverbrechen. Nein, es muss ein Völkermord sein. Ein Völkermord soll strafrechtlich bestätigt werden, denn dieser legitimiert erst recht den ersten NATO-Militäreinsatz »out of area«, der im August 1995 gegen die bosnischen Serben geführt wurde. Es galt ja damals einen Völkermord zu stoppen, was sonst.
Übrigens, Städte beschießen und Zivilbevölkerung umbringen darf ungestraft nur die NATO. Das wusste General Mladic noch nicht.
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