Wir sind Fischer, keine Piraten

In Hamburg stehen zehn Somalier vor Gericht. Lokale Initiativen informieren über die politischen Hintergründe

  • Susann Witt-Stahl
  • Lesedauer: 4 Min.
»Was hat die Piraterie mit dem internationalen Fischraub vor Somalias Küste zu tun?« – Die politischen Hintergründe des Hamburger Seeräuberprozesses werden auf einer Rundfahrt der »Hafengruppe« durch den Hamburger Hafen beleuchtet. »Kein Mensch ist illegal«, der Freundeskreis der Subsistenzpiraterie, die Karawane und die Hafengruppe gehören zu den Initiativen, die das Gerichtsverfahren begleiten. Zu Prozessbeginn protestierten sie gemeinsam mit weiteren Gruppen vor dem Hamburger Landgericht.
Wir sind Fischer, keine Piraten

»Flüchtlinge, die Europa erreichen, werden in Lager gesperrt, Asyl wird ihnen verweigert; stattdessen landen sie im Gefängnis. Wer es vorzieht, in seiner Heimat ums Überleben zu kämpfen, wird neuerdings nach Europa verbracht und vor Gericht gestellt«, beschreibt Ralf Lourenco die Ausweglosigkeit vieler Menschen anlässlich der Anklage gegen zehn Somalier. Lourenco ist Sprecher der Hamburger Sektion der Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen.

Der erste Piratenprozess in Hamburg seit 400 Jahren wird in der deutschen Öffentlichkeit als ein Kapitel internationaler Kriminalgeschichte und als ordnungspolitisches Problem mit einem Hauch Exotik reflektiert. Einige Medien lassen ihn zur Völkerschau geraten. Schon bei der Personalienfeststellung zu Verhandlungsbeginn im November 2010 wurde das deutlich.

Dass einige der zehn angeklagten somalischen Männer und Jungen, die beschuldigt werden, im April 2010 das unter deutscher Flagge fahrende Containerschiff Taipan gekapert zu haben, keine präzisen Angaben über Geburtsort und -jahr machen konnten, wurde als Attraktion vermarktet. Aussagen, wie »ich wurde unter einem Baum geboren« oder »ich kam in der Regenzeit auf die Welt«, steigerten das Erstaunen über das Fremde, das Andere. Sie machten Schlagzeilen.

Über die sozialökonomischen Hintergründe der Renaissance der Piraterie erfährt der Zeitungsleser wenig. Ebenso wenig über die geostrategischen und neoimperialistischen Interessen, von denen die intensive Piratenjagd der führenden Industrienationen geleitet wird, kritisieren antirassistische Initiativen und Flüchtlingsorganisationen. Diese versuchen, der geballten Macht der Meinungsmache mit kritischer Aufklärung zu begegnen.

Gegenöffentlichkeit durch Prozessberichte

Eine Säule dieses Engagements ist die kontinuierliche Prozessbeobachtung und -dokumentation: Im Gerichtssaal sitzen politisch aktive HamburgerInnen und informieren, worüber die meisten Medien schweigen: beispielsweise die Aussagen der Angeklagten über ihre Behandlung nach der Gefangennahme. Ihre Protokollmitschriften der Verhandlungstage des voraussichtlich im Herbst abgeschlossenen Mammutverfahrens können im Internet chronologisch geordnet und in englischer Sprache nachgelesen werden.

Während der Prozesstage platzieren sich regelmäßig Unterstützer mit Transparenten (»We are not pirates, we are fishermen«) vor dem Gerichtsgebäude, die sich vor allem gegen die Kriminalisierung der Menschen in den Elendsquartieren der Welt wenden. Ralf Lourencos Gruppe, deren zentraler Slogan »Wir sind hier, weil ihr unsere Länder zerstört« lautet, forderte zu Prozessbeginn internationale Solidarität.

»Vereint gegen koloniales Unrecht«

In diesem Sinne wirken die Initiativen, die Träger der Kampagne zum Piratenprozess sind: Am 22. Mai organisierten sie auf einer großen Parkwiese vor dem Untersuchungsgefängnis ein Solidaritätsfest, auf dem unter anderem Boule und Boccia gespielt wurde – ein Versuch der moralischen Unterstützung für die weitgehend sozial isolierten Untersuchungshäftlinge unter dem Motto: »Ein bisschen Leben über Zaun und Mauer erklingen lassen!« Vor ein paar Monaten, im Winter wurden dort zu somalischer Musik Kaffee, Kekse und Kuchen gereicht.

»Wir wollen den Angeklagten zeigen, dass nicht allen Hamburgern ihre Situation gleichgültig ist«, erklärte ein Teilnehmer der Initiative »Kein Mensch ist illegal«. Der mitstreitende Freundeskreis der Subsistenzpiraterie stellte bei dieser Gelegenheit die Frage: »Warum stehen nicht die Leute vor Gericht, die Giftmüll vor Somalias Küste versenkt haben, die massenhaft Waffen in den Bürgerkrieg verkaufen, die mit schwimmenden Fischfabriken die Meere vor Somalia leer fischen?«

Die Hamburger Hafengruppe bietet im Rahmen ihrer Alternativen Hafenrundfahrten auch einen 90-minütigen Törn mit dem fragenden Titel »Piraten: Glorreiche Halunken oder Abgehängte dieser Welt?« an.

Bereits im November hatten Hafengruppe, Kein Mensch ist illegal und das Eine-Welt-Netzwerk Hamburg zu einer »schwimmenden Pressekonferenz« auf einer Barkasse geladen. Während der Fahrt durch den Grasbrookhafen – ganz in der Nähe des Störtebeker-Denkmals –, vorbei an der Werft Blohm & Voss, wo gerade eine Korvette für die Kriegsmarine im Bau war, gab es harte Fakten über die extreme Notlage der Bevölkerung im Heimatland der angeklagten Piraten: 1,5 Millionen Menschen irren als Binnenflüchtlinge umher. 40 Prozent der Somalier sind auf Nahrungsmittelverteilung angewiesen. 60 Prozent sind Analphabeten.

»Jeder fünfte Fisch auf unserem Teller ist illegal gefangen worden«, berichtete einer der Referenten. »Derzeit wildern rund 700 Schiffe vor der somalischen Küste, um die restlichen Fischbestände auszubeuten.« Die Einheimischen gingen leer aus, müssten sogar damit rechnen, von einem der rund 40 ständig vor der Küste kreuzenden Kriegsschiffe, vorwiegend aus den USA oder den EU-Ländern, beschossen zu werden. »Die Piraterie ist die New Economy Somalias«, erklärte ein anderer Referent die organisierten Kaperfahrten von Einheimischen als Ausweich- und Selbstverteidigungsstrategie. Auch die marktwirtschaftlichen geopolitischen Hintergründe der Piratenjagd in der Region wurden beleuchtet: Es geht um Waffenexporte und die Sicherung der Handelswege: »Wer den Indischen Ozean kontrolliert, der kontrolliert die Ökonomie des 21. Jahrhunderts.«

Die Hamburger Linke unterhält seit den 1980er Jahren eine kollektive Herzensbindung zu den sagenumwobenen rauen Gesellen, die im 18. Jahrhundert begannen, unter der Piratenfahne »Jolly Roger« zu segeln. 1985 wurde die Flagge erstmals auf besetzten Häusern gehisst. Zu den erbitterten Häuserkämpfen in der Hafenstraße auf St. Pauli lieferte die legendäre Punk-Band Slime mit einer Störtebeker-Hymne den Soundtrack: »Er war stolz und stark und hatte Mut, und er wurde ein zweiter Robin Hood.«

www.hafengruppe-hamburg.de

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