F. Schorlemmer: Die Frage quälte lebenslang

  • Lesedauer: 2 Min.

Ich bewundere an meinem Vater, dass er seine Erfahrungen ohne erkennbare innere Zensur aufgeschrieben und das Tagebuch stets bei sich getragen hat. Über das, was der Krieg aus Menschen macht, unter welchen Befehlen deutsche Soldaten Grausiges unter der Zivilbevölkerung angerichtet haben, hat er nicht hinweggesehen und nichts ausgeblendet. Ich stelle mir vor, dem SD oder der Gestapo wären diese 269 Seiten in die Hände gefallen ...

Er hat uns Kindern oft und viel von seinen Kriegserlebnissen erzählt. Einen Partisanen, der mit Sprengstoffpaketen nächtens zum deutschen Militärlager unterwegs war, habe er als Wachtposten gestellt und dafür das Ritterkreuz 2. Klasse bekommen. Die quälende Frage, was aus diesem Russen geworden ist, hat ihn nicht mehr losgelassen.

Einen Nierenschuss hat er knapp überlebt. Das hat ihm letztlich das Leben gerettet. Denn nach seiner Genesung wurde er in die Etappe nach Frankreich beordert. Für die Hochzeit mit der Medizinstudentin Anne Haack bekam er im August 1943 Fronturlaub. Nach neun Monaten wurde ich geboren. 1946 kam er aus US-amerikanischer Kriegsgefangenschaft zurück in die SBZ, in das altmärkische Dorf Herzfelde. In seinen beiden letzten Lebensjahrzehnten las er fast ausschließlich Literatur über den Zweiten Weltkrieg. Das Lebensthema, mit dem er nicht fertig wurde.

Ich bin dankbar, dass ich einen Vater und von 1947 an sechs Geschwister haben durfte. Die meisten meiner Schulkameraden wuchsen nicht nur ohne Väter auf, oft wurden die Väter auch noch beschwiegen.

Ich selbst habe den Wehrdienst verweigert, weil ich keinesfalls einen Fahneneid sprechen wollte, der unbedingten Gehorsam verlangte, gar mit einer Selbstverfluchungsklausel. Ich wurde Pazifist aus politischen Gründen, aus Gewissensgründen – auch im Gedenken an meinen Großvater, der schon im ersten Kriegsmonat 1914 als vermisst gemeldet worden war.

Meinem vaterlos aufgewachsenen Vater kamen die Tränen, als er mir in meinem 14. Lebensjahr das Schlusskapitel aus »Im Westen nichts Neues« vorgelesen hatte. In seinem Kriegstagebuch heißt es mehrfach, in ironischem Anklang, »Im Osten nichts Neues«.

Friedrich Schorlemmer, geb. 1944, ist Theologe und Pfarrer. Der Essayist, Bürgerrechtler in der DDR und heute, erhielt 1993 den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels.

Wir-schenken-uns-nichts
Unsere Weihnachtsaktion bringt nicht nur Lesefreude, sondern auch Wärme und Festlichkeit ins Haus. Zum dreimonatigen Probeabo gibt es ein Paar linke Socken von Socken mit Haltung und eine Flasche prickelnden Sekko Soziale – perfekt für eine entspannte Winterzeit. Ein Geschenk, das informiert, wärmt und das Aussteiger-Programm von EXIT-Deutschland unterstützt. Jetzt ein Wir-schenken-uns-nichts-Geschenk bestellen.
- Anzeige -

Das »nd« bleibt. Dank Ihnen.

Die nd.Genossenschaft gehört unseren Leser*innen und Autor*innen. Mit der Genossenschaft garantieren wir die Unabhängigkeit unserer Redaktion und versuchen, allen unsere Texte zugänglich zu machen – auch wenn sie kein Geld haben, unsere Arbeit mitzufinanzieren.

Wir haben aus Überzeugung keine harte Paywall auf der Website. Das heißt aber auch, dass wir alle, die einen Beitrag leisten können, immer wieder darum bitten müssen, unseren Journalismus von links mitzufinanzieren. Das kostet Nerven, und zwar nicht nur unseren Leser*innen, auch unseren Autor*innen wird das ab und zu zu viel.

Dennoch: Nur zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!

Mit Ihrer Unterstützung können wir weiterhin:


→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.

Seien Sie ein Teil der solidarischen Finanzierung und unterstützen Sie das »nd« mit einem Beitrag Ihrer Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.