Briefing im Hinterzimmer
Flotten-Teilnehmer werden auf brenzlige Situationen vorbereitet
Im Hinterzimmer eines libanesischen Falafel-Imbisses in Athen fanden sich am Sonntagnachmittag 35 Teilnehmer der »Free Gaza«-Flotte zu einer Schulung ein. Die Gruppe bestand aus Aktivisten unter anderem aus der Schweiz, Österreich, Italien, Irland, Bosnien-Herzegowina, Deutschland und Norwegen. Das Absolvieren dieser Coachings ist Voraussetzung für das Einchecken an Bord eines Schiffes der »Free Gaza«-Flotte.
In dem kleinen Hinterzimmer ist es heiß und stickig, der Raum nicht ausgelegt für die 35 Personen. Einige Teilnehmer wollen wieder gehen. Die Organisatorin hält sie zurück: »Wir haben diesen Ort mit Absicht gewählt«, sagt sie, »damit ihr schon mal einen Eindruck von der Enge auf dem Schiff bekommt.«
Während des gesamten Nachmittages wiesen die Initiatoren immer wieder auf das oberste Verhaltensgebot hin: Gewaltlosigkeit gegenüber Angehörigen der israelischen Streitkräfte und des Geheimdienstes. Den Teilnehmern wird immer wieder aufs Neue eingetrichtert, dass das Verhalten jedes Einzelnen an Bord auf die ganze Gruppe zurückfallen und durch die Medienexperten der Armee zu negativer Propaganda missbraucht werden könne. Im Falle eines Angriffs sind alle Teilnehmer angehalten, nicht über Bord zu gehen, wie dies im letzten Jahr vereinzelt geschehen war. Es wird dringend empfohlen, bei einer Kaperung den Soldaten mit leeren Händen gegenüberzutreten, da die Soldaten jeden beliebigen Gegenstand womöglich als Waffe interpretieren und das Feuer eröffnen könnten. Besonders eindringlich wird darauf hingewiesen, niemals ein am Boden liegendes Geschoss aufzuheben, weil deren Explosion in der Vergangenheit zu schweren Verletzungen der Hand geführt habe. Die Schulungsteilnehmer erfahren, dass Blend-, Sound-, Farb- oder Tränengasgranaten die Sinne der Angegriffenen beeinträchtigen und kurzzeitig zu Orientierungslosigkeit führen können.
Keine Gegenwehr
Auch der mögliche Einsatz von militärisch trainierten Kampfhunden als Waffe wird vorgestellt. »Wenn ein 45 Kilo schwerer Hund Dich angreift, leg Dich auf den Boden«, sagt ein Spezialist mit Militärerfahrung aus der Schweiz. »Der Hund wird versuchen, Dich zu beißen. Du darfst ihm niemals direkt in die Augen schauen und Du kannst Dich nur verteidigen, indem Du dem Hund Deinen Unterarm quer entgegenstreckst. Auch wenn Dir dies sehr wehtun wird.« Der Schweizer empfiehlt, nur lange Hosen an Bord zu tragen, als Präventionsmaßnahme gegen zu arge Bisswunden an den Beinen.
Besprochen wird auch die Reaktion auf einen eventuellen Einsatz der berüchtigten »taser«, eine Pistole, die mit 55 000 Volt aufgeladene Metallspitzen verschießt. Die israelische Armee setzte diese schon bei der Erstürmung der Schiffe 2010 ein, seinerzeit bekam ein Teilnehmer, Jonathan, die abgeschossene Metallspitze sogar in sein Herz gerammt.
»Ich werde mich aber verteidigen«, ruft an diesem Punkt ein völlig aufgebrachter libanesischer Teilnehmer in den Raum. »Du wirst Dir mit diesen Soldaten keinen Kampf leisten können«, hält ihm die Referentin nachdrücklich entgegen. »Das sind keine normalen Soldaten wie an einem Checkpoint. Das sind Elitesoldaten eines Spezialkommandos, die darauf trainiert sind, Dich im Falle einer Gegenwehr in Sekundenschnelle unschädlich zu machen. Sie werden Dich umgehend neutralisieren, wenn Du ihnen dazu auch nur den geringsten Anlass bietest.« Ein anderer Teilnehmer pflichtet der Referentin bei: »Du musst Dich im Griff haben können in der Hitze des Gefechts. Du darfst nicht ausrasten oder Dich zu einer Gegenreaktion provozieren lassen. Das ist es doch, was die Soldaten erreichen wollen.« Auch das Reagieren auf Verhörmethoden des Geheimdienstes nach einer möglichen Festnahme wird geprobt. Nicht zuletzt erfahren die Teilnehmer, dass die Fahrt länger als drei Tage dauern könnte, falls ein Marineverband ein Schiff in Beschlag nehmen sollte, um die Passagiere auszuhungern.
Neue Wasserkanonen
Alle Kapitäne der Flotte hatten am Wochenende in Athen ein gemeinsames Vorbereitungstreffen. Aktivisten aus dem vergangenen Jahr und sogar die Ehefrau des Kapitäns der geenterten »Mavi Marmara« referierten, auf welche Schwierigkeiten sich die Schiffsführer und deren Angehörige zu Hause gefasst machen müssten. In den vergangenen Jahren wurde Israels Armee von rechten Kräften wegen ihrer »zahmen und nachlässigen« Reaktion auf die Missachtung der Seeblockade scharf kritisiert, so dass sie 2010 ihre Haltung ändern musste und aggressiv gegen die Aktivisten vorging. Auch steht laut Umfragen die Mehrheit der israelischen Bevölkerung hinter der Blockade. »Wir befürchten daher dieses Jahr erneut einen Angriff durch die Marine und Spezialeinheiten auf die Flotte«, sagte ein Veranstalter. Die israelischen Kriegsschiffe, die die Gaza-Flotte abfangen sollen, sind bereits mit neuen Wasserkanonen ausgestattet worden.
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