Höhenflug für einen besseren Lohn
Die LINKE demonstrierte an der neuen Rügenbrücke für Touristen und Kellnerinnen
Schon von Weitem sind die Warnblinkanlagen der auf dem Mittelstreifen der neuen Rügenbrücke parkenden Autos zu sehen. Bäckerwagen, Baustofflieferanten, Laster aller Art, die auf die Insel wollen oder entgegengesetzt Richtung Stralsund rollen, verringern ebenso wie kleine Pkw die Geschwindigkeit. Kraftfahrer suchen in Regen und Nebel den Grund für den Auflauf – und entdecken im Morgengrauen zwei Männer auf einer Hebebühne hoch über dem neuen Wahrzeichen von Mecklenburg-Vorpommern. Die einen grinsen, einige grüßen den Tross der entgegen der sonstigen Verkehrsordnung auf dem Damm wandelnden Linkspolitiker, andere können mit der Belästigung noch vor Tagesanbruch offenbar so gar nichts anfangen – und würdigen selbst Fotografen und Kamerateams keines Blickes.
Den Finger in die Wunde gelegt
Die haben derweil ihre Bilder und O-Töne im Kasten. »Ihnen einen schönen Urlaub! Der Kellnerin einen guten Lohn!« – der Gruß der Linkspartei an die Gäste der Jahr für Jahr beliebter werdenden Urlaubsregion legt den Finger in eine tiefe Wunde. Mecklenburg-Vorpommern ist Niedriglohnland Nummer eins in Deutschland, 75 Prozent der unter 20-Jährigen und ein Drittel aller Arbeitnehmer beziehen Billiglöhne, ein Viertel aller Bewohner des Landes ist von Armut betroffen. Löhne von 700 Euro für Zimmermädchen und 1000 Euro für Köche sind zwischen Ostsee und Müritz keine Seltenheit. Mecklenburg-Vorpommern ist das einzige Land, in dem die jährlichen Bruttolöhne und Gehälter durchschnittlich unter 22 000 Euro liegen. Traurige Fakten, die die Linkspartei zusammengetragen hat, in Bund wie Land immer wieder benennt und zur Begründung ihrer Forderung nach einem gesetzlichen, existenzsichernden und branchenübergreifenden Mindestlohn heranzieht – und die dennoch von der Großen Koalition in Schwerin wie von Schwarz-Gelb in Berlin anhaltend bezweifelt oder schlicht ignoriert werden.
Das musste die LINKE schon Mitte Juni erfahren, als sie mit einer ebenfalls spektakulären Aktion an der Schweriner Arbeitsagentur ein Plakat »Bundesagentur für Armut. Vier Euro je Stunde? Pfui Angie!« anbrachte, weil man einer arbeitslosen Bürokauffrau in Sternberg im Kreis Güstrow einen Job als Hauswirtschafterin für vier Euro Stundenlohn angeboten hatte. Alles nur Wahlkampf, tönte es da aus vielen Richtungen – von der politischen Konkurrenz ebenso, wie von vielen Medien. Dass derlei Resonanz die Genossen nicht abhält, weiter – und auch mit ungewöhnlichen Maßnahmen – auf den sozialen Sprengstoff im Lande hinzuweisen, ist seit gestern klar.
Und auch, dass in der Partei, die seit Wochen und Monaten vor allem durch innerparteilichen Streit von sich reden macht, durchaus noch gelacht wird und etwas gelingen kann. Etwas, was Mitglieder wie Wähler und den ein oder anderen zur mehr als ungewöhnlichen Zeit zum Termin gebetenen Journalisten mehr interessiert als die immer gleichen Richtungs- oder Machtkämpfe. Diese Erfahrung hat auch der LINKE-Fraktionschef im Schweriner Landtag, Helmut Holter, der zur Landtagswahl am 4. September als Ministerpräsidentenkandidat antritt. Nein, in keiner der bisherigen Wahlveranstaltungen seien bislang die Turbulenzen in der Bundespartei thematisiert worden, sagt er auf ND-Nachfrage. »Die Menschen interessiert, was wir in Mecklenburg-Vorpommern vorhaben«, auch werde er sehr häufig auf die rot-rote Regierungszeit im Nordosten angesprochen. Und selbstbewusst setzt Holter hinzu: »Wir haben in den acht Jahren unseres Mitregierens mehr verändert, als die Große Koalition es danach getan hat.« Heute herrsche in der Landesregierung Stillstand. Das sieht auch Landesparteichef Steffen Bockhahn so. CDU und SPD im Landtag scheinen festgelegt zu haben, keinen Konkurrenzwahlkampf zu führen. Sie überhäuften sich gegenseitig mit Lob und thematisierten nicht die wirklichen Probleme des Landes. »Nimmt die SPD ihr eigenes Wahlprogramm ernst«, so Bockhahn, »kann sie eigentlich mit der CDU nicht weitermachen.« Die LINKE biete soziale Projekte an, die mit der SPD machbar wären.
Löhne »unter aller Würde«
Eines davon ist der Mindestlohn, bei dem Linkspartei und Sozialdemokraten inzwischen nicht mehr weit auseinander liegen. Bundestagsfraktionschef Gregor Gysi, als Frühaufsteher seinen Genossen eher nicht bekannt geworden, erläutert putzmunter ein ums andere Mal das Anliegen des großen Aufgebotes auf der Rügenbrücke, das parallel zu Plakat- und Flugblattaktionen an sechs weiteren Urlaubszentren wie auch an der Landesgrenze zum Ferienstart in Mecklenburg-Vorpommern vertreten wird. Zum einen wolle die LINKE zeigen, dass sie den Urlaubern etwas gönne. Zum anderen wolle sie daran erinnern, dass die Lohnbedingungen im Gastgewerbe Mecklenburg-Vorpommerns allen Anstandsregeln widersprächen und »unter aller Würde« seien. Und zum dritten rücke seine Partei im Unterschied zu allen anderen Parteien im Bundestag, die stets nur den Export ankurbeln wollten, die Stärkung der Binnenwirtschaft in den Fokus – das funktioniere aber nicht mit sinkender, sondern nur mit steigender Kaufkraft
Nicht nur Gysi, auch sein Fraktions-Vize Dietmar Bartsch, Rügens Landrätin Kerstin Kassner, Bockhahn und Holter haben schon vor der für 5.30 Uhr anberaumten Pressekonferenz in Stralsund auf der Rügenbrücke genug Gelegenheit, noch mehr Fakten zum Thema Niedriglohn aufzulisten – derweil der Wahlkampfchef der Nordost-Linken, André Brie, damit beschäftigt ist, das Riesen-Plakat an den Seiten höchstselbst festzuzurren. Die Landespolitiker beklagen in alle ihnen hingehaltenen Mikrofone die zunehmende Abwanderung von Kellnern, Hotelfachleuten und Köchen aus dem deutschen Nordosten in die Alpenregion, nach Österreich und die Schweiz, konstatieren leerbleibende Lehrstellen im Gastgewerbe daheim und sehen die Strategie gescheitert, mit Niedriglöhnen zu neuen Unternehmensansiedlungen in Mecklenburg-Vorpommern zu kommen.
Während Holter darauf verweist, dass die von der FDP durchgesetzte Mehrwertsteuersenkung nicht bei den Beschäftigten angekommen sei und deshalb auch jetzt nach der Steuersenkungs-Ankündigung der Bundesregierung sich große Skepsis breit mache, verweist Bockhahn auf die generell niedrige Tarifbindung der Branche. Die Landrätin Rügens wiederum sieht vor allem die Probleme der Zukunft – heutige Dumpinglöhne würden die Gefahr der Altersarmut der Betroffenen erhöhen – und die Kosten für die Kommunen. Sie weiß, wovon sie spricht. Schon heute kämen in die Jobcenter viele Vollbeschäftigte, weil sie zu ihrem geringen Lohn ergänzende Sozialleistungen brauchen, um irgendwie über die Runden zu kommen.
Großer Auto- und noch größerer Problemstau
Fast anderthalb Stunden dauert es, bis das fast 200 Quadratmeter große und 55 Kilogramm schwere Plakat in 35 Meter Höhe an der ersten Querstrebe zwischen den Pylonen der Rügenbrücke befestigt ist. Fast so lange auch – Videoüberwachung hin oder her –, bis ein Polizeiauto sich vor die Schlange der parkenden Autos setzt und eine Beamtin und ein Beamter leicht irritiert aussteigen. Der Polizist will sich schleunigst telefonisch kundig machen, wie es sich mit der Genehmigung der Protestaktion verhält, seine Kollegin macht ihn leise auf das große Presseaufgebot aufmerksam. Bartsch wechselt ein paar launige Bemerkungen mit dem Mann in Uniform zu Genehmigungen im Speziellen wie im Allgemeinen, doch dann ist der Vertreter der Ordnungshüter zunächst eine Weile mit seinem Funktelefon beschäftigt. Inzwischen ist es hell geworden, die Hebebühne wieder sicher am Boden, die Höhenarbeiter bekommen viele Hände gereicht, die Botschaft flattert fröhlich im Nebel – und ihre Überbringer wie die Zuschauer der Aktion schalten die Warnblinkanlagen in den Autos aus und fahren grinsend gen Stralsund-Zentrum.
Am Mittag dann meldet dpa, dass nach Angaben der Polizei das Technische Hilfswerk beauftragt wurde, das Transparent zu entfernen. Der Zugang zur Insel habe gesperrt werden müssen – kilometerlange Staus hätten sich gebildet. Ob manch einer der Kraftfahrer darüber ganz im Unterschied zur Nacht- und Nebel-Aktion am Morgen dann doch noch wütend geworden ist, wurde nicht überliefert. Vielleicht aber wäre vielen Reisenden nicht nur eine stressfreie Fahrt auf die Insel oder zurück ans Festland lieber als die Ordnungspolitik gewesen – sondern auch das Transparent. Oder besser die Einlösung seiner Forderung, die einen Problemstau in Deutschland auflösen würde: ein ordentlicher Lohn.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.