Kritik kommt aus allen Schichten
In Syrien gibt es neben dem etablierten Nationalen Dialog eine weitgefächerte Opposition
Das Urgestein der säkularen, unabhängigen Opposition sind die Intellektuellen, Schriftsteller, Journalisten und Anwälte, die sich am 27. Juni zur Überraschung vieler offiziell und ungehindert versammeln konnten. Von den rund 150 Personen saßen viele für ihre Meinung in Haft, international bekannt wurden sie 2005 mit der sogenannten Damaskus-Beirut-Erklärung, die eine Normalisierung der Beziehungen zwischen beiden Staaten forderte.
Kritik an der Staatsführung gibt es auch aus anderen Parteien innerhalb der Nationalen Progressiven Front, die formal an der Seite der herrschenden Baath-Partei mit an der Macht beteiligt ist. Zur Front gehören unter anderem die Kommunistische Partei und die Arabische Sozialistische Partei (Nasseristen). Selbst aus der Baath-Partei sind kritische Stimmen zu hören. Zu den Kritikern der Regierung zählen auch unabhängige Abgeordnete und ehemalige Staatsdiener, die sich erstmals vor einer Woche in Damaskus trafen. Sie forderten alle Seiten zum Dialog auf. Die Regierung solle sich direkt mit Demonstranten treffen.
Als »halb- oder illegal« könnte man weitere kommunistische und islamische Parteien bezeichnen, was diese aber zurückweisen, weil es in Syrien bisher kein Parteiengesetz gibt. Zu dieser Gruppe zählen vor allem Anhänger der Muslimbruderschaft, die in Syrien verboten ist. Deren Führer sind an einem Dialog mit der Regierung offenbar nicht interessiert. Ein Gremium, das vor wenigen Tagen von Oppositionellen gegründet wurde, soll diese Parteien in die Vorbereitung eines »Nationalen Dialogs« einbeziehen. Als Voraussetzungen für einen Dialog fordern sie den Abzug von Militär und Sicherheitskräften in die Kasernen und die Freilassung aller inhaftierten politischen Gefangenen und Demonstranten.
Schwierig ist die Blogger- und Facebookszene zu beschreiben. Sie arbeitet anonym, oft unter falschen Namen, um staatlicher Kontrolle zu entgehen. Vermutlich findet sich hier vor allem städtische Jugend zusammen. Viele agieren aus dem Ausland, was es schwierig macht, diese Szene zu analysieren. Die »sozialen Medien« können zudem leicht infiltriert werden. Kürzlich wurde bekannt, dass eine homosexuelle Syrerin, die eine Art Tagebuch ins Internet gestellt hatte, nicht existierte, sondern die Erfindung eines US-Amerikaners war.
Mehr als 50 Prozent der syrischen Bevölkerung sind jünger als 25 Jahre. Sie sind nach Einschätzung von Oppositionellen wie dem Publizisten Michel Kilo die treibende Kraft für eine moderne, freie und demokratische Gesellschaft. Selbst wenn sie arbeitslos sind, so sind sie häufig hoch gebildet. Auf die Frage, wer die Demonstranten außerhalb der Großstädte seien, antwortet eine oppositionelle Frauenaktivistin (im Gespräch mit der Autorin): »Wenn ich das nur wüsste.« Einwohner aus Damaszener Vorstädten bestätigen eine starke Mobilisierung sunnitischer Muslime, die allerdings ohnehin die Mehrheit in Syrien darstellen. Frauen organisieren sich häufig in getrennten Blöcken und tragen einen Gesichtsschleier.
Sowohl das Militär als auch Oppositionelle sprechen von bewaffneten Kräften vor allem in den Grenzstädten wie Daraa (Grenze zu Jordanien), Tell Kalach (bekannte Schmugglerstadt Grenze zu Libanon) und Dschisr al-Schugur (Grenze zur Türkei). In wessen Auftrag sie agieren und wie groß diese Gruppen sind, ist unklar. Oppositionelle geben an, man habe sich bewaffnet, um sich zu verteidigen.
Zwölf kurdische Parteien hatte Präsident Baschar al-Assad Anfang Juni zu einem Dialog eingeladen, manche spekulierten schon über einen Autonomiestatus à la Nordirak. Die Kurden werden von westlichen Beobachtern als »die am besten organisierte Opposition« bezeichnet, die sich aber bisher zurückhält.
Im Ausland hat sich eine Opposition Gehör verschafft, die in Syrien nicht allzu viel Echo findet. Schon 2006 hatte sich in London eine Nationale Rettungsfront gegründet, Deren Hauptakteur ist der ehemalige syrische Vizepräsident Abdul Halim Khaddam, der seit 2005 vom Exil in Paris aus den Sturz von Assad betreibt. Dagegen dürfte die Hilfe der Muslimbrüder im Ausland ihren syrischen Anhängern gelegen kommen. Deren Legalisierung als Partei wird vor allem von der Türkei gefordert, die Syrien damit offen unter Druck setzt.
Eine schweigende Mehrheit gibt sich weiterhin abwartend. Sie kritisiert die mangelnden Bürgerrechte und Freiheiten, dennoch überwiegt die Skepsis, ob und wenn ja wie, Syrien einen abrupten Wandel überstehen könnte. »Irak und Libyen sind zerstört, Tunesien und Ägypten sind ungefestigt, obwohl dort seit Jahren eine politische Kultur und Strukturen existieren«, gibt ein Gesprächspartner in Damaskus zu bedenken. »Wir Syrer brauchen Zeit, um die notwendigen Reformen einzuleiten. Demokratie muss gelernt werden, nicht verordnet.«
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