Kurden proben den Bruch mit Ankara
Premier Erdogan setzt nach Parlamentswahl offenbar auf die nationalistische Karte
Fünf von 35 gewählten Abgeordneten der prokurdischen Partei für Frieden und Demokratie (BDP) wurden – anders als nach vorangegangenen Wahlen üblich – nicht aus der Untersuchungshaft entlassen. Einem wurde erst unmittelbar nach der Wahl am 12. Juni das passive Wahlrecht aberkannt. Aus Protest weigerten sich alle BDP-Parlamentarier, den Abgeordneteneid zu leisten. Parlamentspräsident Cemil Cicek bemühte sich zwar um eine Einigung, doch da platzte am vergangenen Donnerstag die Nachricht herein, dass 13 türkische Soldaten in einem Hinterhalt von kurdischen Rebellen getötet wurden. Beim anschließenden Gefecht starben auch mehrere Angreifer, vermutlich Angehörige der Untergrundorganisation PKK. Es war der schwerste Rebellenangriff seit drei Jahren.
Nur wenige Stunden später erklärte eine Versammlung in Diyarbakir die Autonomie der Kurden. Das Gremium aus Vertretern der Zivilgesellschaft und BDP-Politikern nennt sich Kongress für eine demokratische Gesellschaft (DTK) und tagt seit ungefähr einem Jahr.
Die Erklärung dürfte zu einer Verschärfung der Spannungen führen. Die Staatsanwaltschaft hat bereits Ermittlungen gegen Mitglieder des DTK aufgenommen. Von kurdischer Seite ist mit Demonstrationen und Aktionen des zivilen Ungehorsams zu rechnen, die wiederum zu verstärkter Repression führen. Am Ende könnte die BDP verboten werden, so wie mehrere ihrer Vorgängerparteien.
Die nationalistische türkische Opposition beschuldigte Erdogan, er trage selbst Schuld an der Zuspitzung, weil er geheime Gespräche mit dem inhaftierten PKK-Führer Abdullah Öcalan führen lässt.
Die prokurdische Zeitung »Özgür Gündem« machte die Regierungspartei AKP und damit Erdogan aus anderem Grunde für die Eskalation verantwortlich: Die AKP habe kein Verständnis für Demokratie, wenn sie glaube, dass ihr jeder gehorchen müsse, weil sie die meisten Stimmen erhalten habe. Auf diese Weise verweigere sie den Kurden alle Rechte. Was die kurdischen Abgeordneten erwarte, sollten sie ins Parlament zurückkehren, hätte Erdogans Verhalten gegenüber der oppositionellen Republikanischen Volkspartei (CHP) gezeigt, meinte »Özgür Gündem«. Auch die 135 CHP-Abgeordneten hatten zunächst den Eid verweigert, weil zwei ihrer Kollegen in Haft sind. Nachdem sie sich zur Aufgabe des Boykotts überreden lassen hatten, wurden sie von Erdogan jedoch verhöhnt: Er sagte, sie hätten gespuckt und müssten nun »auflecken«. Eine Lösung für die zwei inhaftierten Abgeordneten ist immer noch nicht absehbar.
Erdogan will rasch eine neue Verfassung verabschiedet wissen. Doch spätestens wenn der Entwurf für diese Verfassung verkündet wird, muss er die Karten in der Kurdenfrage auf den Tisch legen. Die Signale, die er aussendet, sind indes für die Kurden alles andere als ermutigend. Offenbar ist der Regierungschef der Meinung, er könne sein Projekt nur mit strammer nationalistischer Haltung durchsetzen. Also rufen ihm die Kurden drastisch ins Gedächtnis, dass es das von ihm bereits für erledigt erklärte kurdische Problem noch immer gibt. Seit 1984 starben in dem Konflikt rund 45 000 Menschen.
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