Die Hoffnung demokratischer Gegengewalt

Jean Zieglers Rede für Salzburg. Er durfte sie nicht vor denen halten, die von seinen Worten angeklagt und bloßgestellt werden

  • Lesedauer: 5 Min.

Sehr verehrte Damen und Herren,

alle fünf Sekunden verhungert ein Kind unter zehn Jahren. 37 000 Menschen verhungern jeden Tag, und fast eine Milliarde sind permanent schwerstens unterernährt. Und derselbe Weltfood-Report, der alljährlich diese Opferzahlen gibt, sagt, dass die Weltlandwirtschaft in der heutigen Phase ihrer Entwicklung problemlos das Doppelte der Weltbevölkerung normal ernähren könnte.

Schlussfolgerung: Es gibt keinen objektiven Mangel, also keine Fatalität für das tägliche Massaker des Hungers, das in eisiger Normalität vor sich geht. Ein Kind, das am Hunger stirbt, wird ermordet.

Gestorben wird überall gleich. Ob in somalischen Flüchtlingslagern, Elendsvierteln von Karachi oder Slums von Dacca – der Todeskampf folgt immer denselben Etappen.

Bei unternährten Kindern setzt der Zerfall nach wenigen Tagen ein. Der Körper braucht erst die Zucker-, dann die Fettreserven auf. Die Kinder werden lethargisch, dann immer dünner. Das Immunsystem bricht zusammen. Durchfälle beschleunigen die Auszehrung. Mundparasiten und Infektionen der Atemwege verursachen schreckliche Schmerzen. Dann beginnt der Raubbau an den Muskeln. Die Kinder können sich nicht mehr auf den Beinen halten. Ihre Gesichter gleichen Greisen. Dann folgt der Tod. Die Umstände jedoch, die zu dieser tausendfachen Agonie führen, sind vielfältig und oft kompliziert.

Ein Beispiel: die Tragödie, die sich gegenwärtig, im Juli 2011, in Ostafrika abspielt. In den Savannen, Wüsten, Bergen von Äthiopien, Djibouti, Somalia und Tarkana (Nordkenia) sind zwölf Millionen Menschen auf der Flucht. Der Boden ist hart wie Beton. Neben den trockenen Wasserlöchern liegen die verdursteten Zebu-Rinder, Ziegen, Esel und Kamele. Wer von den Frauen, Kindern, Männern noch Kraft hat, macht sich auf den Weg, in eines der vom UNO-Hochkommissariat für Flüchtlinge und vertriebene Personen eingerichteten Lager.

Zum Beispiel nach Dadaad, auf kenianischem Boden. Dort drängen sich seit drei Monaten über 400 000 Hungerflüchtlinge. Die meistens stammen aus dem benachbarten Südsomalia, wo die mit Al-Quaida verbundenen fürchterlichen Shaabab-Milizen wüten. Platz im Lager gibt es schon lange nicht mehr. Das Tor im Stacheldrahtzaun ist geschlossen. Vor dem Tor machen die UNO-Beamten die Selektion: nur noch ganz wenige – die eine Lebenschance haben – kommen herein.

Das Geld für die intravenöse therapeutische Sondernahrung – die ein Kleinkind, wenn es nicht zu sehr beschädigt ist, in zwölf Tagen zum Leben zurück bringt – fehlt.Das Geld fehlt. Das Welternährungsprogramm, das die humanitäre Soforthilfe leisten sollte, verlangte am 1. Juli für diesen Monat einen Sonderbeitrag seiner Mitgliedstaaten von 180 Millionen Euros. Nur 62 Millionen kamen herein. Das WPF (World-Food-Programm)-Budget lag 2008 bei 6 Milliarden Dollars. 2011 ist das reguläre Jahresbudget noch 2,8 Milliarden. Warum? Weil die reichen Geberländer – insbesondere die EU-Staaten, die USA, Kanada und Australien – viele Tausend Milliarden Euro und Dollar ihren einheimischen Bankhalunken bezahlen mussten: zur Wiederbelegung des Interbanken-Kredits, zur Rettung der Spekulations-Banditen. Für humanitäre Soforthilfe (und reguläre Entwicklungshilfe) blieb und bleibt praktisch kein Geld.

Die Tonne Getreide kostet heute auf dem Weltmarkt 270 Euro. Ihr Preis war genau die Hälfte im Jahr zuvor. Reis ist um 110 Prozent gestiegen. Mais um 63 Prozent. Die Folge? Weder Äthiopien noch Somalia, Djibouti oder Kenia konnten Nahrungsmittelvorräte anlegen – obschon die Katastrophe seit fünf Jahren voraussehbar war. Dazu kommt: Die Länder des Horns von Afrika sind von ihren Auslandsschulden erdrückt. Für Infrastrukturinvestitionen fehlt das Geld.

Viele der Schönen und der Reichen, der Großbankiers und Konzern-Mogule dieser Welt kommen in Salzburg zusammen. Sie sind Verursacher und Herren dieser kannibalischen Weltordnung.

Was ist mein Traum? Die Musik, das Theater, die Poesie – kurz: die Kunst – transportieren die Menschen jenseits ihrer selbst. Die Kunst hat Waffen, welche der analytische Verstand nicht besitzt: Sie wühlt den Zuhörer, Zuschauer in seinem Innersten auf, durchdringt auch die dickste Betondecke des Egoismus und der Entfremdung und der Entfernung. Sie trifft den Menschen in seinem Innersten, bewegt in ihm ungeahnte Emotionen. Und plötzlich bricht die Defensiv-Mauer seiner Selbstgerechtigkeit zusammen. Ins Bewusstsein dringt die Realität. Dringen die sterbenden Kinder.

Wunder könnten in Salzburg geschehen: Das Erwachen der Herren der Welt. Der Aufstand des Gewissens! Aber keine Angst, dies Wunder wird in Salzburg nicht geschehen.

Ich erwache. Mein Traum könnte wirklichkeitsfremder nicht sein! Kapital ist immer und überall stärker als Kunst. »Unsterbliche gigantische Personen« nennt Noam Chomsky die Konzerne. Die total entfesselte, sozial völlig unkontrollierte Profitmaximierung ist ihre Strategie. Es ist gleichgültig, welcher Mensch an der Spitze des Konzerns steht. Es geht nicht um seine Emotionen, sein Wissen, seine Gefühle. Es geht um die strukturelle Gewalt des Kapitals. Gegen das eherne Gesetz der Kapitalakkumulation sind selbst Beethoven und Hofmannsthal machtlos.

»L'art pour l'art« hat Théophile Gautier Mitte des 19. Jahrhunderts geschrieben. Die These von der autonomen, von jeder sozialen Realität losgelösten Kunst schützt die Mächtigen vor ihren eigenen Emotionen und dem eventuell drohenden Sinneswandel.

Die Hoffnung liegt im Kampf der Völker der südlichen Hemisphäre, von Ägypten und Syrien bis Bolivien, und im geduldigen, mühsamen Aufbau der Radikal-Opposition in den westlichen Herrschaftsländern. Kurz: in der aktiven, unermüdlichen, solidarischen, demokratischen Organisation der revolutionären Gegengewalt. Es gibt ein Leben vor dem Tod.

Der Tag wird kommen, wo Menschen in Frieden, Gerechtigkeit, Vernunft und Freiheit, befreit von der Angst vor materieller Not, zusammen leben werden.

Ich danke Ihnen.

(leicht gekürzt)

Die Rede Zieglers (»Der Aufstand des Gewissens«) erschien im Salzburger Ecowin-Verlag (2,50 Euro


Der Schweizer Soziologe Jean Ziegler (77) ist ein kompromissloser Streiter: gegen die Kluft von Reich und Arm, gegen das unnatürliche Gesetz, dass die einen draußen bleiben müssen wie Hunde, weil die anderen vergessen, dass sie als Menschen eine Gemeinschaftspflicht haben. Offiziell meidet man Ziegler in Salzburg, weil er angeblich Gaddafi-nah sei. »Nein. Als Nestlé, UBS, Credit Suisse hörten, dass ihre Großkunden 30 Minuten lang mir zuhören müssten, war das für die ein Horror.« Nun spricht Ziegler in Salzburg vor Oppositionellen. »... Kehr ich mich weg, vom Augenschmerz durchdrungen.« Heißt es im »Faust«. Eine der Premieren in Salzburg. Salzburgs Problem in diesem Jahr ist der Ohrenschmerz. Die Eröffnungsrede für die Festspiele hält – Joachim Gauck.
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