»Das ist Geschichtsrevisionismus«

Nach Oskar Lafontaines Stalinismus-Erläuterungen im ND regt sich Unmut in Teilen der Linkspartei

  • Uwe Kalbe
  • Lesedauer: 5 Min.

Das Thema Stalinismus ist eines der lange umstrittenen Felder in der Programmdebatte der LINKEN. Ein Kompromiss schien gefunden. Doch mit einem Beitrag für »Neues Deutschland« hat Oskar Lafontaine das Fass wieder aufgemacht.

Im Oktober soll ein Parteitag über den inzwischen vorliegenden Leitantrag zum neuen Programm der Linkspartei abstimmen. Und während die Parteiführung sich zufrieden über gefundene Kompromisse äußert, kann offenbar nicht jeder in der Partei die Zufriedenheit teilen. So hat das Forum Demokratischer Sozialismus seinen Widerspruch zu der rigorosen und nach Meinung seiner Protagonisten undifferenzierten Ablehnung jedweder Form des Einsatzes der Bundeswehr – außer zur Landesverteidigung – kritisiert und Änderungsanträge zum Leitantrag angekündigt. Auch das Thema Stalinismus wird erneut Gegenstand der Debatten.

In einer Rezension über das im ND-Verlag erschienene Buch »Alles auf den Prüfstand« hatte der frühere Parteichef und jetzige Fraktionsvorsitzende im Saarland, Oskar Lafontaine, warnend formuliert, die Linkspartei dürfe in der Stalinismusdebatte nicht den aufrechten Gang verlieren (ND vom 13.Juli 2011). Unter Rückgriff auf die im Jahr 1989 auf einem SED/PDS-Parteitag gehaltene Grundsatzrede von Michael Schumann kommt Lafontaine zum Schluss, dass der Stalinismus kein Problem der Partei, sondern eines der Gesellschaft sei. Anhand der von Schumann entwickelten Kriterien eines »Stalinismus als System« betrachtet er in seinem Text jedoch das heutige kapitalistische Gesellschaftssystem. So erscheint die anschließende Feststellung, die Schumannsche Definition markiere den endgültigen Bruch mit dem Staatssozialismus, nur noch als eine Randbemerkung.

Lafontaine schlussfolgert aus Schumanns Ausführungen, »dass die Selbstverpflichtung einer kleineren Partei, im parlamentarischen Regierungssystem eine solche Gesellschaftsordnung nicht mehr anzustreben, eher auf Verständnislosigkeit stoßen dürfte«. Lafontaine erklärt das Thema für die Partei, obwohl er es in seinem Beitrag neu aufruft, damit quasi für beendet. »Die Rede vom Dezember 1989 markierte historisch den unwiderruflichen Bruch der SED/PDS mit einem System, das von der Bevölkerung der DDR nicht mehr ertragen wurde.« Im Ergebnis erscheint nicht nur die Debatte in der Partei als überflüssig, sondern auch das Problem, so wie es im nun vorliegenden Leitantrag definiert ist, als unzutreffend dargestellt.

Eine »große Provokation« sehen zehn ehemalige PDS- und heutige Politiker der LINKEN deshalb in dem »als Rezension präsentierten Kurzaufsatz«, wie es reserviert in einem Papier heißt, das Neues Deutschland vorliegt. In ungewöhnlich scharfen Worten wenden sich die Unterzeichner aus Brandenburg und Sachsen-Anhalt gegen Lafontaine. Die in dessen Text »vertretene Position zum Stalinismus als System wie zum Umgang der LINKEN und ihrer Quellpartei PDS damit sind aus unserer Sicht mit einer demokratischen Linken nicht vereinbar«. Konflikte könnten die Partei voranbringen, so die ehemaligen PDS-Politiker, unter ihnen Ralf Christoffers, Wirtschaftsminister, Helmut Markov, Finanzminister, und Kerstin Kaiser, Fraktionsvorsitzende in Brandenburg. Aber: »In dieser Frage nun trennen uns Welten. Wir finden, Umkehr ist geboten...«

Für die Unterzeichner hat es »nichts mit intellektueller Redlichkeit zu tun«, wenn Lafontaine »Strukturelemente einer geschlossenen Gesellschaft, der ›Diktatur des Proletariats‹... formal auf eine parlamentarische Demokratie und eine fest in die Weltökonomie integrierte Marktwirtschaft, auf eine wettbewerbsorientierte offene Gesellschaft« übertrage. »Der Zweck erscheint uns durchsichtig: Die heutige Realität wird durch die Gleichsetzung mit dem Vergangenen diskreditiert, wer im Heute – verglichen mit dem Vergangenen – historischen Fortschritt erkennt, soll ideologisch abgekanzelt werden. Hier offenbart sich ein rein taktischer, agitatorischer Zugang zu einem Kernproblem des 20. Jahrhunderts und der Geschichte der linken Bewegung und damit ein fehlendes hinreichendes historisches Verständnis.«

Wenige Tage nach Vorlage des Programmentwurfs habe Lafontaine außerdem »an einer zentralen Stelle« den »Richtungskampf wieder aufgemacht«. Die Unterzeichner lesen »eine harte Polemik gegen die sogenannten Reformer und vor allem gegen die Grundsubstanz dessen, was die PDS unter ihrer Führung aus der DDR und dem Scheitern des Realsozialismus gelernt hatte. Genau das wird nun als überflüssig unter den heutigen Bedingungen und bestenfalls zeitgeschichtlich zeitweilig von Belang dargestellt. Damit wird für uns nicht nur die Leistung all derer diskreditiert, die den sehr schmerzhaften Weg gegangen sind, die Geschichte unserer Partei anzunehmen, die historische Fehlentwicklung konsequent zu überwinden. Nein, wir finden das ist Geschichtsrevisionismus.«

Vor allem für die einstigen Mitglieder der PDS ist mit dem Stalinismus ein sensibles Thema angesprochen, das für viele eng mit dem eigenen, mit dem Selbstverständnis einer sozialistischen Partei zu tun hat. Deren demokratische und bürgerrechtliche Dimension hat in langen Debatten einen festen Platz im Verständnis der meisten ostdeutschen Mitglieder erhalten. Im ND-Interview hatte zu Wochenbeginn auch die Bundestagsvizepräsidentin Petra Pau Kritik an den Äußerungen Lafontaines zum Stalinismus deutlich gemacht. »Stalinismus als System meint mehr. Auch mehr, als Oskar Lafontaine jüngst umschrieb.« Er beginne beim Selbstverständnis von Parteien, »beim Versuch, Wahrheiten zu dekretieren oder Widerspruch zu unterdrücken, beim Umgang miteinander und mit Andersdenkenden«.

Auf den grundsätzlichen Charakter der Einwände gegenüber Lafontaine weist gegenüber ND Achim Bittrich, Vizelandesvorsitzender in Sachsen-Anhalt und mit Thomas Falkner Autor des Papiers, hin. Er nennt es »selbstherrlich«, wie Lafontaine trotz besseren Wissens über die Überzeugungen eines großen Teils seiner Partei hinweggehe und ohne Rücksicht auf den aktuellen Wahlkampf in zwei ostdeutschen Bundesländern einen für viele Genossen entscheidenden Konsens zur Disposition stelle. Dass dies unter Berufung auf Michael Schumann geschieht, »unter Missbrauch von Namen, Autorität und Lebensleistung«, empfinden die Lafontaine-Kritiker in ihrem Papier zudem als »schlichtweg infam«.

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