»… das Spiel dürfte aus sein«

Kurt Tucholsky fürs 21. Jahrhundert: Die neue Werk- und Briefausgabe ist komplett

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 6 Min.

Für ein paar Wochen kehrt die Arbeitslust noch einmal zurück. Walter Hasenclever ist nach Schweden gekommen, sie haben gemeinsam Weihnachten und Silvester gefeiert, und nun, in den ersten Januartagen 1932, sitzen sie in Tucholskys fein möbliertem Haus in Hindas, um weiter an ihrer Komödie »Christoph Kolumbus oder Die Entdeckung Amerikas« zu schreiben. Sie genießen den Spaß, ihre Gemeinsamkeit, die unverhoffte Leichtigkeit dieser Tage. Mitte des Monats sind sie fertig, der Freund reist wieder ab, und gleich ist der alte Verdruss wieder da, die Müdigkeit, das lähmende Gefühl der Vergeblichkeit, der Gedanke, dass alles falsch ist in seinem Leben. Dazu, quälend seit langem, die Nasenbeschwerden, eine böse Stirnhöhlenvereiterung, gegen die ärztliche Hilfe offenbar nichts ausrichten kann. »Wird auch in politicis sehr abblasen«, schreibt er am 1. Mai 1932 seiner wieder in Berlin lebenden Frau, »das Spiel dürfte aus sein«.

Noch klappert die Schreibmaschine. Noch zwingt sich Tucholsky, seinen Vertrag mit der »Weltbühne« zu erfüllen. Aber viel wird es nicht mehr, was er liefert, ein paar Gedichte, Glossen, Geburtstagsgrüße für Roda Roda, Buchkritiken, die Satire »Hitler und Goethe«, mehrere Bündel »Schnipsel«. Gleich im Januar 1932 die Sätze: »Um mich herum verspüre ich ein leises Wandern. Sie rüsten zur Reise ins Dritte Reich.« Anfang 1933, nach langer Pause, der endgültige Abschied vom Publikum: »Liebe Weltbühne!«, ein Gruß aus Basel vom »treuen, aber noch nicht gesunden Peter Panter«. Der politische Publizist ist schon lange vorher verstummt. Im Mai steht sein letzter großer Aufsatz im »Blättchen«: »Für Carl von Ossietzky. Generalquittung«. Es wird der stärkste Text, den er in diesem Jahr 1932 schreibt. Der Herausgeber der »Weltbühne« muss seine Haft antreten, verurteilt für einen Artikel seines Mitarbeiters Walter Kreiser, der die heimliche Aufrüstung der deutschen Luftwaffe enthüllte. »Anderthalb Jahre Gefängnis für eine gute Ware erhalten zu haben«, heißt es am Schluss, »das kann bescheinigt werden. Die Ware wird weitergeliefert.« Er, Kurt Tucholsky, wird sich daran allerdings nicht mehr beteiligen.

Die letzten 78 Arbeiten, die 1932 und 1933 veröffentlicht wurden, stehen, komplettiert mit Nachträgen, nachgelassenen Texten und Briefen, im Band 15 dieser Gesamtausgabe. Er beschließt jetzt, mit dem gleichzeitig ausgelieferten Registerband, die größte editorische Anstrengung, der sich der Rowohlt-Verlag in jüngster Zeit stellte. 22 opulente, chronologisch geordnete Bände, die vollständigste, um viele Ausgrabungen bereicherte, dazu umfassend kommentierte Text- und Briefsammlung: welch Herausforderung, bewältigt in gerade mal 15 Jahren. Solch Tempo ist heute selten. Ein Seitenblick auf ähnliche Unternehmungen (etwa die neue Thomas-Mann-Edition des S. Fischer Verlages) genügt, um diese Leistung zu würdigen. Sie ist aller Ehren wert.

Der Verlag hat seinem Autor Kurt Tucholsky hier ein Monument gesetzt, wie es spektakulärer nicht denkbar ist. Manche, sicher, schütteln den Kopf. Eine so lange Bücherreihe mit Zeilenzählung, Kommentar und allem Drum und Dran für einen, der in der Hauptsache ein Tagesschriftsteller war, ein Publizist, der sich, nüchtern und skeptisch genug, selber ausrechnen konnte, dass das alles einmal hoffnungslos verblassen würde? Die Maxime seines Lebens immerhin lautete: »Erwarte nichts. Heute – das ist dein Leben.« Auf die Nachwelt hat er nie geschielt. Hat er je an sie gedacht? Man muss es bezweifeln. Aber schon Ernst Rowohlt zögerte nicht, ihn in den Rang eines Klassikers zu erheben. 1960/61 sorgte er nach vielen, in hohen Auflagen verbreiteten Einzelbänden für das große Ereignis: Der Mann, den Hermann Kesten eben erst aufs Maß eines »deutschen Humoristen« und »Berliner Volkskomikers« gestutzt hatte (was erregte öffentliche Debatten nach sich zog), wurde mit »Gesammelten Werken« bedacht, einer dreibändigen Dünndruckausgabe, die 1962 noch mit »Ausgewählten Briefen« ergänzt wurde. Es war Rowohlts letzte Tat. Um seine Lieblingsidee zu realisieren, hatte er sich sogar gegen den eigenen Cheflektor durchsetzen müssen, der es – wie manch anderer auch – bedenklich fand, einen Autor wie Tucholsky derart nobel und ausführlich zu würdigen.

Auch die Gesamtausgabe Texte und Briefe ist nicht nur auf Zustimmung gestoßen. Selbst Kenner befürchteten, sie könnte Tucholskys Sargdeckel werden, abschreckend in ihrer Monströsität. Wirklich? Die meisten Leser, Hand aufs Herz, werden um die dicken, schweren Bücher wahrscheinlich einen Bogen machen. Sie brauchen sie nicht. Sie werden weiter zu »Rheinsberg« und »Schloß Gripsholm« greifen, da und dort ein bisschen nippen, ohne dabei den Eindruck zu gewinnen, man bräuchte nun aber dringend einen Anmerkungsapparat. Die anderen jedoch, jene, die den großartigen politischen Schriftsteller, den in den Tageskämpfen verstrickten Tucholsky, den bissigen Satiriker, den melancholischen Feuilletonisten nicht ausblenden, sind garantiert im Vorteil, wenn sie diese Bände zur Verfügung haben. Hier gibt es zum Werk, was man so woanders nicht findet: die biografischen Details und den prächtigen Zeithintergrund.

Es ist wie in vergleichbaren Fällen auch: Dies ist die Edition, die dem höchsten Anspruch dient. Sie dokumentiert ihre Überlegenheit schon im Textumfang. Nirgendwo sonst wird einem so viel Tucholsky geboten. Beinahe wichtiger noch, vor allem für jüngere Leser, ist der ausführliche, mit Informationen und Erläuterungen reich gefütterte Kommentar. Die Dinge, mit denen sich der Autor auseinandergesetzt hat, sind ja inzwischen so entrückt, dass sie nur Wenigen vertraut sind. Wer weiß denn noch etwas mit all den Vorgängen, Ereignissen, Namen, Theaterstücken, Büchern anzufangen, an denen sich der Publizist, der Kritiker, der Polemiker, der Lyriker gerieben, die er behandelt oder erwähnt hat? Die Anmerkungen, die oft die Hälfte eines Bandes beanspruchen, sind das eigentlich Sensationelle der Ausgabe, in dieser Qualität, dieser Akribie unerreicht.

Und dann die Briefe. Was bisher vorlag, war nicht vollständig und zudem häufig gekürzt. Jetzt haben wir, versammelt in sechs Bänden, alle bekannten Schreiben Tucholskys, dazu, im Kommentarteil, auch Passagen aus den gesperrten Tagebüchern und Briefen seiner zweiten Frau Mary Tucholsky. Mehr kann man nicht verlangen.

Band 15 mit den Texten des Abschieds bringt noch einmal viel Neues, darunter eine Erinnerung an den (eher unpolitischen) Vater, der sich nicht danach riss, »als Futter für die Kater-Ideen der hohen Herren« zu dienen; das satirische Kolumbus-Stück mit seinen Angriffen auf Staat und Kirche, das noch nie in einer Tucholsky-Ausgabe stand und nach seiner Leipziger Uraufführung im September 1932 von Rechtsradikalen und Nazis heftig bekämpft wurde; der Leitartikel im ersten Heft der »Wiener Weltbühne« vom 29. September 1932 (die später »Die neue Weltbühne« hieß). Dazu dokumentiert der Band zum ersten Mal all die nachgelassenen Arbeiten, Notizen und Entwürfe des »aufgehörten Schriftstellers«: Couplets, Kabarettszenen und eigene Kompositionen, ein Filmexposé, die Materialien für einen ungeschriebenen Roman, Briefe sowie das (schwer entzifferbare) »Sudelbuch«, links die faksimilierte Handschrift, rechts die Transkription. Es sind, erstaunlich genug, über 1500 Dünndruck-Seiten geworden. Band 22 mit dem mustergültigen Register, das auch die rezensierten Theateraufführungen, Bücher und Filme, sogar die Inhaltsverzeichnisse der von Tucholsky einst publizierten Sammelbände ausweist, steht dem im Umfang kaum nach.

Für diese Ausgabe sorgten viele: die vier Herausgeber, von denen drei nicht mehr am Leben sind (im vorigen Jahr starb auch Antje Bonitz, die von Anfang an die Fäden in der Hand hatte), die Bandbearbeiter, ein Team von Kennern und Begeisterten, und der Verlag, der sich nicht beirren ließ und einem seiner erfolgreichsten Autoren die Werk- und Briefsammlung fürs 21. Jahrhundert schenkte.

Kurt Tucholsky: Gesamtausgabe Texte und Briefe, Band 15: Texte 1932/1933, 1559 S., geb., 79,95 €€. Band 22: Register, 1338 S., geb., 79,95 €€. Hg. von Antje Bonitz, im Rowohlt Verlag.

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