Eine Loreley war nie dabei

Woher Mythen kommen und wie sie »gemacht« werden

  • Michael Müller
  • Lesedauer: 6 Min.
Mythische Reste: Nur rund 20 Quadratmeter Schiefer auf dem Felsenplateau sind noch unversiegelt wie zu Loreleys Zeiten.
Mythische Reste: Nur rund 20 Quadratmeter Schiefer auf dem Felsenplateau sind noch unversiegelt wie zu Loreleys Zeiten.

Alles recht grandios, aber wiederum auch nicht sensationell zu nennen. Drunten im engen Felsental, 125 Meter tief, kurvt der Rhein; einstige tödliche Strudel sind nur zu erahnen. Uferseits rechts und links zwängen sich höchst unromantisch stark befahrene Bahngleise und Schnellstraßen entlang. Das Land dehnt sich weit und fürs Auge wohltuend gewellt; im Ohr bleiben die ständigen Jets vom und zum Frankfurter Flughafen. Auf dem Loreley-Felsen selbst ist alles adrett, doch von Busparkplatz und Restauration bis zu Rundweg und Sitzbänken gibt es da wenig, was die Örtlichkeit von sonstigen touristischen Halt- und Fotopunkten unterscheidet. Dennoch wird sie jährlich von etwa einer Million Menschen bestaunt. So viele sind es an keinem anderen deutschen Kultort.

Und diese vielen Leute können einfach nicht irren. Es muss also doch mehr dran sein an der sagenhaften singenden, liebestoll gewordene Männer ins Verderben stürzenden Blondine mit dem Goldkamm, mehr auch an Fels und Fluss, als des Reporters beschränkter Blick da ausmacht.

In der Tat. Längst sind Ort und Gegend in höchsten Tönen gerühmt und besungen. Vom »schönsten Landstrich Deutschlands«, weiß beispielsweise Heinrich von Kleist zu berichten, der gerade auch wegen seines 200. Todesjahres überall so beflissen zitiert und bemüht kommentiert wird. Alles sei »wie ein Dichtertraum, und die üppigste Phantasie kann nichts Schöneres erdenken«, schreibt er. Doch was soll man von solch Feingeisturteil halten, wo aus selber Feder später, an »Germania und ihre Kinder« gerichtet, dieser unappetitliche Appell zum fröhlichen Franzosenmassakrieren quillt? »Alle Plätze, Trift' und Stätten, / Färbt mit ihren Knochen weiß; / Welchen Rab und Fuchs verschmähten, / Gebet ihn den Fischen preis; / Dämmt den Rhein mit ihren Leichen; / Laßt gestäuft von ihrem Bein, / Schäumend um die Pfalz ihn weichen, / Und ihn dann die Grenze sein!«

Ute Grassmann, Anfang 60, kundige wie eloquente Loreleyforscherin und -führerin, BUND-Aktivistin und Trägerin des Bundesverdienstkreuzes, schüttelt es bei solcher Erwähnung geradezu. Und sie hält sie auch für deplatziert angesichts des massentouristisch-magnetischen Kraftfeldes um die Loreley bei St. Goarshausen am Mittelrhein. Die Frage, woher dieses Kraftfeld rührt, inspiriert sie zu einem weit wallenden Fakten- und Meinungsreigen. Doch am Ende bleibt nur ein Schlüsselwort: Mythos. Sowie der Hinweis: »Eine endgültige Antwort gibt es da nicht.« Und das wird wohl immer so bleiben. Weil der Mythos eben »so gewaltig wirkt und zugleich das Was und Wie dieses Wirkens begrifflich unerklärbar lässt«, wie es bei Franz Fühmann, dem vielleicht tiefsinnigsten Essayisten der DDR, schlicht wie genial heißt.

Dabei scheint der Fall Loreley eigentlich ganz prosaisch, ja profan. Zwei Mythen sind in ihm verwoben. Zum einen: Frau und Mann entbrennen in unerfüllter Liebe zueinander, und zumindest einer stirbt daran. Zum zweiten: Singende schöne Frau/Frauen zieht/ziehen Männer so in ihren Bann, dass die sich zu Grunde richten.

Aufgezeichnet, präziser: literarisch verarbeitet liegt beides (Stichworte: Paris und Helena bzw. die Sirenen) erstmals bei Homer vor, in dessen Ilias und Odyssee übrigens noch viele andere Mythen fixiert sind. Das faszinierte und inspirierte seither Hunderte Generationen. Diese genialen Plots hat sich Homer allerdings nicht »ausgedacht«, sondern er hat Mythen verarbeitet, die seit Menschengedenken umgingen. Hat also Urtypen menschlicher Konstellationen und Konflikte aus dem kollektiven Unbewussten, so der Psychoanalytiker Carl Gustav Jung, ins gesellschaftliche Bewusstsein gerückt.

Mythen sind ständig virulent. Aber sie brauchen Anstöße, die sie wahrnehmbar werden lassen. Drum haben sich bei der Loreley, worauf Ute Grassmann gern und ausführlich zitierend verweist, zwei Romantiker verdient gemacht. Einer der größten, Clemens von Brentano, und der, nach eigenen Worten, letzte, Heinrich Heine. Sie »erfinden« in den beiden Anfangsjahrzehnten des 19. Jahrhunderts die Lore Lay bzw. Lore-Ley. Eine solche hatte es vorher in dieser Rheingegend, wo eher Zwerge und Echos herumspukten, nicht gegeben.

Nun aber greift Brentano in »Zu Bacharach am Rheine« (1801) zum Zauberstab des – siehe oben – ersten Mythos und Heine bei seiner »Lore-Ley« (1823) zum zweiten. Eine echte Loreley war also bei all dem nie dabei. Der Name ist – möglicherweise intuitiv – synthetisch. Lay/ Ley meint im Rheinischen bzw. Niederdeutschen einen Felsen, und lore/ lure entspricht im Mittelhochdeutschen der Arglist bzw. der Elfe.

Aus dem tiefen, unergründlichen Brunnen der Vergangenheit also, auf den Thomas Mann zu Beginn seiner Joseph-Trilogie verweist, nimmt somit ein Mythos wieder einmal seinen Lauf. In einem dem Zeitgeist gemäßen Empfindungsraum von Wissen und Glauben. Wobei es – so wie bei der Loreley auch – weitgehend unerheblich ist, ob das »mythische Material« weit zurückliegende oder die Zeitgeschichte betrifft. Bei letzterem denke man nur an zwei jüngere deutsche Gründungsmythen. Etwa an »Auferstanden aus Ruinen« (DDR-Nationalhymne von 1949), in der das Phönix-aus-der-Asche-Thema anklingt. Oder an das »Wunder von Bern« (BRD 1954 als Außenseiter sensationell Fußballweltmeister), was das ewige David-Goliath-Thema aufnimmt.

Für die nun 200 Jahre alte Loreley ist sich Ute Grassmann indes sicher: »In ihr hat die ewige Sehnsucht des Menschen nach Liebe und Schönheit, nach Natur und Kultur schönste Antwort gefunden.« Wer kann ihr solch Urteil verdenken, wenn zu ihr japanische Touristen hoch marschiert kommen mit Heines »Loreley«-Text und der Melodie von Friedrich Silcher auf den Lippen?

Das mythische Kraftfeld wirkt also immer noch. Nicht zuletzt Reklame liefert dafür den Dauerstrom. Natürlich gibt es Besucher, die das alles für zöpfig und überholt halten. Erich Kästner gibt ihnen mit seinem »Handstand auf der Loreley« die Steilvorlage: »Wir wandeln uns. Die Schiffer inbegriffen. / Der Rhein ist reguliert und eingedämmt. / Die Zeit vergeht. Man stirbt nicht mehr beim Schiffen, / nur weil ein blondes Weib sich dauernd kämmt.« Das ist kess gesagt. Aber Kästner bleibt damit doch irgendwie das sprichwörtliche Wildschwein, dass sich an einer unbeeindruckten deutschen Eiche schubbert.

Mythen sind für die Ewigkeit, aber dennoch fragile und gefährlich indifferente Wesen. So bemächtigten die Nazis sich vieler, indem sie demagogisch das subtil Gleichnishafte auf profane Gleichsetzung reduzierten. In den Loreley-Felsen bauten sie eine Thingstätte, und die Autorenschaft des jüdischen Lorey-Dichters Heine versuchten sie tot zu schweigen. Ebenso können Mythen zu Kitsch verkommen. Doch ob schmalzige Postkarte, Gipsstatue mit Aschenbecher oder schiefer Reim: Sie kriegen den Mythos nicht tot. Mehr noch. Auch Demagogie und Kitsch können für den zum Faszinosum werden, für den darin nur ein Splitterchen Mythos aufflimmert.

Auf dem Loreley-Felsen gibt es übrigens auch markante Kitsch-Situationen. Etwa eine junge weiß gewandete, harfende und selbstverständlich blonde langhaarige Dame, die für Gruppenreisende gebucht werden kann. Oder diese Steinplatte mit eingraviertem brennenden Herzen. Ute Grassmann sagt, dass Handauflegen Liebestreue bewirken soll. Hunderttausende fassen da jährlich drauf. Hoffnungsvoll oder wehmütig, ernst oder belustigt, verschämt oder demonstrativ. Aber alle einem Mythos folgend. Auch dabei ist die Loreley in figura übrigens nie dabei. Denn das einzige Denkmal für sie steht nicht oben auf dem nach ihr benannten Felsen, sondern unten am Hafen von St. Goarshausen.

  • Rhein-Touristik Tal der Loreley, Besucherzentrum, 56346 St. Goarshausen, Tel.: (06771) 59 90 93.
  • Touristikgemeinschaft Loreley-Burgenstraße, Bahnhofstraße 8, 56346 St. Goarshausen, Tel.: (06771) 910- 15.
  • www.tal-der-loreley.de; www.loreley-touristik.de; www.tui.com, www.tui-flussgenuss.de; www.tempus-rhenus.de
  • Mario Kramp / Matthias Schmandt, Die Loreley. Ein Fels am Rhein. Ein deutscher Traum, Mainz, Philipp von Zabern 2004.
  • Franz Fühmann, Das mythische Element in der Literatur, in: Essays, Gespräche, Aufsätze, Hinstorff Verlag, Rostock, 1983.
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