Marlenes Koffer am Schreckenstein
Das böhmische Usti nad Labem zeigt auf Stadtspaziergängen verborgene Schönheiten
Die Himmelfahrt beginnt mitten im Einkaufszentrum. Auf zwei Etagen drängen sich im »Forum« von Usti nad Labem die Kunden in den Boutiquen; ein Stockwerk darüber schwingen sich die Gondeln einer Kabinenbahn in die Höhe. Ziel der nur zwei Minuten langen Fahrt sind freilich nicht Gletscher oder Pisten, sondern die »Vetruse«, ein luftig gelegener Aussichtspunkt samt gediegenem Restaurant. Von hier öffnet sich der Blick über die von bewaldeten Bergen und schroffen Felsen gesäumte Stadt und das breite Tal der Elbe, in die zu Füßen der Vetruse das Flüsschen Bilina mündet – was Usti den Namen gab: Das Wort bedeutet »Mündung«.
Die Fahrt mit der Seilbahn ist, auch wenn sie zunächst aus dem engen Zentrum herausführt, womöglich ein guter Weg, um sich der Stadt und ihrem Selbstverständnis zu nähern. Der Blick von der Vetruse bestätigt einerseits, was Besucher schon ahnen, sobald sie den Bahnhof oder das Parkhaus verlassen haben: Usti ist kein Ort, der auf den ersten Blick staunen lässt. Es gibt, anders als in vielen anderen böhmischen Städten, keinen Markt mit barocken Bürgerhäusern, verschnörkelter Pestsäule und Wegweisern zum Schloss. Die Straßen sind vielmehr gesäumt von einer bunten architektonischen Mischung aus neuer Sachlichkeit, sozialistischer Moderne, sanierter Gründerzeit und gesichtslosen Konsummeilen wie dem »Forum« – ein Potpourri, das allenfalls spröden Charme entfaltet.
Zugleich aber bietet Usti seinen Besuchern etwa eine Seilbahn direkt im Stadtzentrum. Gebaut wurde diese zunächst, damit Ausflügler die Vetruse erreichen, ohne sich den Gefahren eines dicht befahrenen Verkehrsknotens aussetzen zu müssen. Um ihn zu überbrücken, entschloss man sich freilich zu einer ungewöhnlichen, kühnen und sehenswerten Lösung, die zudem mit einem Superlativ aufwarten kann: Mit einer Seillänge von 330 Metern handelt es sich um »die längste Bahn ohne Abstützsäulen« in Tschechien, wie es im städtischen Tourismusbüro heißt.
Typisch Usti, ließe sich sagen. Auf den ersten Blick ist die Stadt am Nordrand des Böhmischen Mittelgebirges mit ihren knapp 100 000 Einwohnern ein zumindest wenig attraktives Entlein, wofür zu einem Gutteil der Zweite Weltkrieg verantwortlich ist: Vor allem im April 1945 wurde die Industriestadt, die damals noch Aussig hieß, schwer bombardiert und verlor große Teile des historischen Stadtkerns. Auf den zweiten Blick wartet sie mit nicht alltäglichen Attraktionen und verborgener Schönheit auf – sowie zahlreichen Superlativen. Ein Projekt des städtischen Museums hat diese kürzlich zusammengetragen. Es trägt den Titel »Ustecka NEJ«. NEJ bezeichnet im Tschechischen das Größte, Schönste oder Beste.
Die Museumsleute sind erstaunlich häufig fündig geworden. In Usti, merken sie an, steht der schiefste Kirchturm Europas – eine Attraktion, die sich ironischerweise der Bombardierung verdankt. Seither weicht der Turm der Kirche Maria Himmelfahrt bis zu 201 Zentimeter von der Senkrechten ab. Hier spannt sich aber auch die schönste Brücke Europas über einen Fluss: Die 1998 erbaute Marienbrücke, deren Fahrbahn mit 30 Stahlseilen an einen avantgardistisch geformten Pylon gehängt ist, wurde 2001 von einem internationalen Architekturmagazin mit höchsten Weihen versehen. Daneben gibt es etwa das größte Mosaik der früheren CSSR, ein 450 Quadratmeter großes Zeugnis sozialistischer Kunst am Platz Mirove namesti, oder das erste fernbeheizte Gebäude der Tschechoslowakei, das 1922 Gymnasium war und heute das Stadtmuseum beherbergt.
All diese Einmaligkeiten können Usti-Besucher bei einem Stadtspaziergang kennenlernen – auf einer von vier »Routen ungeahnter Schönheit«. Entwickelt wurden diese im Rahmen eines EU-Projektes, dessen Zweck es ist, bisher wenig bekannte touristische Ziele zu erschließen. Zu den vier Spaziergängen in Usti, die zwischen sechs und 14 Kilometer lang sind, gibt es nicht nur detaillierte und informative Faltblätter, sondern sogar Audioführer, die kostenlos (gegen eine Kaution) im städtischen Tourismusbüro entliehen werden können.
Wer den Routenvorschlägen folgt, kann viele Überraschungen erleben in einer Stadt, zu deren berühmtesten Töchtern (besser: Schwiegertöchtern) die Schauspielerin Marlene Dietrich gehört. Deren Ehemann Rudolf Sieber, der später Produzent in Hollywood wurde, war Sohn eines Aussiger Beamten. Nach dem Machtantritt der Nazis beantragte das Paar sogar die tschechische Staatsbürgerschaft, reiste dann aber doch in die USA aus. In den Wirren des Kriegsendes kehrte Dietrich letztmals in die Stadt zurück, als sie mit US-Soldaten eine abenteuerliche Fahrt zu ihren Schwiegereltern unternahm. Gewissermaßen hat sie nicht nur einen Koffer in Berlin, wie es im berühmten Schlager heißt, sondern auch einen in Usti.
Dem Haus, in dem Rudolf Sieber gelebt hatte, wird im Rahmen der Stadtbummel kein Besuch abgestattet, dafür widmet sich ein Rundgang verschiedenen sehenswerten Villen aus der Zeit von Historismus, Jugendstil, Funktionalismus oder des sozialistischen Realismus. Eine weitere Tour folgt den Spuren von Künstlern. Sie führt unweigerlich zu dem Bauwerk von Usti, das es zum größten Ruhm gebracht hat – der aus Gemälden von Ludwig Richter und Caspar David Friedrich bekannten Burg Schreckenstein. Das trutzige Gemäuer, das auf einem Felssporn hoch über der Elbe thront, überwachte einst eine Untiefe im Fluss, die vielen Schiffern zum Verhängnis wurde. Heute bietet die Burg, deren Besichtigung möglich ist und auf der es auch ein Restaurant gibt, einen imposanten Blick auf das Elbtal – und ein weiteres »NEJ«, die 1936 fertiggestellte Masaryk-Schleuse, das größte Sperrwerk entlang der tschechischen Elbe.
Vor allem die Routen, die zur Burg Strekov führen, verlangen einige Kondition, will man nicht die Tour durch eine (äußerst preiswerte) Fahrt mit Bus oder O-Bus abkürzen. Ob Fußmarsch oder Stadtbummel samt Busfahrt – angemessen abrunden lässt sich die Entdeckungsreise auf der Suche nach den verborgenen Schönheiten von Usti durch den Besuch in einem Restaurant, etwa dem Lokal »Na Rychte« direkt im Stadtzentrum. In dem Haus mit langer Tradition, das in seiner jetzigen Form aber erst 2010 eröffnete, gibt es nicht nur exzellente böhmische Küche, sondern – für das Bierland Tschechien fast noch wichtiger – eine Hausbrauerei, in der das 12-prozentige »Vojtech« ebenso direkt aus dem kühlen Keller kommt wie das sogar 16-prozentige »Ustecky lev«. Es wird nicht überraschen, dass auch das »Na Rychte« mit einem NEJ aufwartet: Das hier gebraute »Mazel« wurde gerade erst zu einem der besten Biere Tschechiens gewählt.
- Infos: Tschechische Zentrale für Tourismus - CzechTourism, Wilhelmstraße 44, 10117 Berlin, Tel./Fax: (030) 204 47 70, www.czechtourism.com
- Usti nad Labem ist von Dresden aus stündlich per Zug zu erreichen (Fahrzeit 60 bis 90 Min.)
- Mehr Informationen zu den Stadtspaziergängen: www.usti-nad-labem.cz .
- Das Restaurant »Na Rychte« bietet auch Möglichkeiten zur Übernachtung an: www.pivovarnarychte.cz
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