Budjet, budjet – wird schon

Christine Eibl: »Überlebensbericht aus dem Herzen Moskaus«

  • Christel Berger
  • Lesedauer: 2 Min.

Bevor meine Eltern Anfang der 1960er Jahre zum ersten Mal in die Sowjetunion fuhren, kaufte mein Vater ein Buch über die »Sowjetmenschen« und erfuhr daraus, wie diese sind: gastfreundlich, sangesfreudig, trinkfest, zu stolz, um Trinkgeld zu nehmen, vor allem liebenswert, uns DDR-Bürgern Vorbild und Freund. Nicht alles hat sich bestätigt. Aber einige Freunde aus Leningrad hatten meine Eltern lebenslang.

Christine Eibls Buch hat einen witzigen Titel, und man hofft auf eine freundliche Russenversteherin, schließlich hat sie 1993 und von 2003 bis 2006 in Moskau gearbeitet. Für Touristen ist es wohl nicht geschrieben, eher für Geschäftsleute, die dort Geld machen wollen oder für deutsche Chefs mit russischem Personal. Die erwartet Schreckliches! Die Russen »ticken« anders als die Deutschen! Beziehungen sind ihnen das wichtigste. Arbeitsdisziplin ist ein Fremdwort. Und wenn sie »aussteigen«, beantragen sie kein Sabbat-Jahr, sondern gehen ganz und gar, machen überhaupt nicht mehr mit, was ja auch der eigentlich begehrte (Oblomowsche) Lebenstil ist: Feiern und es sich ohne Arbeit gut gehen lassen. Eine Saubande, diese Russen! Oder: Beneidenswert, so eine Lebenshaltung? Die Beispiele, die Christine Eibl schildert, besitzen schon Komik; Rezensenten anderer Medien haben sich köstlich amüsiert. Leute, die länger in Russland waren, bestätigen seufzend oder schmunzelnd die Erfahrungen mit der sich wichtig nehmenden Bürokratie, mit »budjet, budjet«, dieser »Wird-Schon«- Mentalität. Gründe für alles sieht die promovierte Historikerin in der »verqueren« russischen Geschichte: Sogar Adel und Kirche entwickelten sich anders als in Europa. Überhaupt – das wissen wir schon seit Peter I – war Russland nie »richtig« regierbar. Weder »richtig« europäisch, noch »richtig« asiatisch, weder eine »richtige« Nation, geschweige Demokratie.

Auch wenn das Buch lustig, sogar selbstironisch und verständnisvoll daherkommt, warum bekomme ich dennoch das Gefühl nicht los, von einer modernen Kolonialherrin beraten zu werden über den Umgang mit den fremden Eingeborenen?

Christine Eibl: Nicht alle Russen haben Goldzähne, sind immer betrunken und auch nicht jeder russische Beamte ist korrupt. Ein Überlebensbericht aus dem Herzen Moskaus. Weissbooks. 191 S., geb., 18.80 €.

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