Der große Verweigerer
Mit seiner Absage an eine humanistische Erneuerung stürzte Papst Benedikt XVI. die römische Kirche in eine ihrer tiefsten Krisen
Für Richard Dawkins, britischer Evolutionsbiologe und Bestsellerautor (»Der Gotteswahn«) ist er ein »Feind der Menschheit«, für Hans Langendörfer, Jesuitenpater und Sekretär der Deutschen Bischofskonferenz, der »bedeutendste Deutsche der Gegenwart«. Der Journalist Alan Posener (»Der gefährliche Papst«) sieht ihn auf dem Kreuzzug gegen sämtliche Werte der Aufklärung und der Demokratie. Andreas Englisch, ebenfalls Journalist, beschreibt in seiner Biografie »Benedikt XVI. – Der deutsche Papst« den »bemerkenswerten Wandel des Joseph Ratzinger vom streng konservativen Präfekten der römischen Glaubenskongregation zum weltoffenen und dialogorientierten Papst im Zeichen von Ökumene und interreligiöser Aussöhnung« (so die Verlagsankündigung). – Der Mann, der morgen nach Deutschland kommt, polarisiert die öffentliche Meinung wie kaum ein anderer.
Die Äußerungen wirken wie ein Déjà-vu: Als Joseph Ratzinger sich am 19. April 2005 als neues Oberhaupt von 1,2 Milliarden Katholiken auf der Mittelloggia des Petersdoms präsentierte, wogte die öffentliche Meinung zwischen Euphorie und Entsetzen. Während die einen vom »großen Nachfolger« sprachen, sahen die anderen bereits den »großen Verweigerer«. Geradezu exemplarisch belegten das die Schlagzeilen »WIR SIND PAPST!« (»Bild«) und »Oh, mein Gott!« (taz).
Der Religionswissenschaftler Hubertus Mynarek, der 1972 als erster Theologieprofessor im deutschsprachigen Raum aus der katholischen Kirche ausgetreten war, sagte mir damals: »Trotz aller entgegengesetzten Medienberichte, die Ratzinger vom gnadenlosen Großinquisitor zum guten Hirten gewandelt sehen, bleibe ich dabei: Der Mann kann sich gar nicht ändern, denn er wurde ja gewählt, um eine Liberalisierung der katholischen Kirche zu verhindern, so wie sie sein Vorgänger über 26 Jahre lang verhindert hat. Unter allen konservativen ›papabiles‹, die zur Debatte standen, war Ratzinger der intelligenteste und dogmatisch festeste. In seiner Rede vor der Wahl gegen den sogenannten Relativismus hatte er klar gemacht: Das einzig Absolute ist die Kirche, alles andere ist relativ. Deshalb und nur deshalb wurde er von der reformfeindlichen Mehrheit im Konklave gewählt, deren Auftrag er jetzt erfüllt.«
Dennoch klammerten sich zahlreiche Menschen inner- und außerhalb der Romkirche an die Hoffnung, das neue Amt des Oberhirten möge das alte Amt des obersten Inquisitors überstrahlen und den Amtsträger gleichsam von einem Gnadenlosen zu einem Gnadenbringer umfunktionieren. Eine kühne Hoffnung, die gerichtet war auf einen damals bereits 78-Jährigen, der fast ein Vierteljahrhundert damit verbracht hatte, Abweichler von der »reinen Lehre« zu disziplinieren.
Immerhin, es hatte einmal einen anderen Joseph Ratzinger gegeben, an den diese Hoffnungen anknüpften: Jenen Theologen, der als Berater des Zweiten Vatikanischen Konzils (1962-1965) reformorientierte und progressive Auffassungen vertrat, so eine stärkere Autorität der nationalen Bischofskonferenzen gegenüber dem römischen Zentralismus und die freie Entfaltung theologischer Meinung und Forschung. Auffassungen, denen er später als Chefideologe des polnischen Papstes und dann selbst als Pontifex maximus der Una Sancta, als oberster Priester der »Einen heiligen Kirche«, entschieden die Stirn bot.
Als Zeitscheide für diesen Sinneswandel gilt das Jahr 1968, in dem der Theologieprofessor Ratzinger an der Universität Tübingen ein gleichsam negatives Damaskus-Erlebnis hatte. Nicht Christus erschien ihm, wie einst dem Apostel Paulus, sondern der Anti-Christus in Gestalt studentischen Aufbegehrens, dessen Ausläufer auch die katholisch-theologische Fakultät erfassten. Es war vor allem das diesen Vorgängen anhaftende Unkontrollierbare, das bei Ratzinger tiefstes Unbehagen auslöste. Die Furcht, über selektive Veränderungen Störungen und Zerstörungen im Ganzen zu bewirken, prägte fortan sein Wirken in Lehre und Amt.
Sicher, auch vor 1968 waren Ratzingers konservativ-traditionalistische Grundgestimmtheit, sein auf das Unhinterfragbare des katholischen Glaubens gerichtetes theologisches Denken das Bestimmende seiner Persönlichkeit. Aber die Ereignisse in Tübingen hatten ihm einen Faktor der Unberechenbarkeit drastisch vor Augen geführt, von dem er sich künftig so wenig wie möglich beeindrucken lassen wollte und sollte: das reale Leben, die profane Weltlichkeit.
Benedikt XVI. gilt inzwischen vielen als Papst, dem die Welt fremd ist, der lieber erbauliche Bücher schreibt und die lateinische Liturgie fetischisiert, als sich mit den Imponderabilien des Kurienapparates herumzuschlagen oder gar aus der Ankunft der Menschheit im 3. Jahrtausend notwendige Umbauten am Dogmengebäude seiner Institution abzuleiten. Wer seine literarisch durchaus anspruchsvollen Jesus-Bücher liest, kann nachvollziehen, in welcher abgeschotteten Glaubenswelt sich der Führer der katholischen Christenheit eingerichtet hat.
Eher rührend wirken deshalb Äußerungen wie die der Grünen-Vorsitzenden Claudia Roth, die mit Blick auf die angekündigten Proteste bemerkte, es werde dem Papst »mal ganz gut tun, nach Berlin zu kommen und zu spüren, was Realität ist im Jahr 2011«. Nein, von dieser Realität lässt sich Joseph Ratzinger nicht beirren. Sie repräsentiert für ihn Lebensmodelle, »die den Geist verdunkeln und jede Sittlichkeit auszuschalten drohen«, in denen »der Schatz des Menschen nicht sein Glaube« ist. Und der Glaube, so forderte Benedikt XVI. erst kürzlich beim katholischen Weltjugendtreffen in Madrid, müsse im Rahmen der römischen Kirche gelebt werden. Wer der Versuchung nachgebe, ihn nach einer individualistischen Auffassung auszugestalten, laufe »Gefahr, Jesus Christus niemals zu begegnen oder letztlich einem Zerrbild von ihm zu folgen«.
Die Realitätsverweigerung hat für die Kirche fatale Folgen, als deren Ursachen Ratzinger vor allem in Europa gern »aggressive Säkularisierung« und eine »Diktatur des Relativismus« ausmacht. Zahlenmäßiger Rückgang und geistig-geistliche Entfremdung der Gläubigen, Priesternotstand und Theologiemisere wurden und werden aber maßgeblich durch die innere Zerrissenheit der Kirche bewirkt, die Johannes Paul II. und sein Glaubenspräfekt sowie Amtsnachfolger zu verantworten haben. Ihr erklärtes Programm war das Festhalten und der Ausbau sämtlicher Zumutungen, deren Reform respektive Abschaffung seit Jahrzehnten zu den Forderungen progressiver Katholiken gehören: Absolutistische Führung der Weltkirche, Reglementieren der Bischofskonferenzen, Ignorieren der Laienvertretungen, Bevormundung und Zensur theologischer Lehre, restriktive Sexualmoral, Verweigerung der Ehe für Priester, Verbot künstlicher Empfängnisverhütung, Nein zu weiblicher Selbstbestimmung, Ausgrenzung Geschiedener, Diskriminierung Homosexueller, Absage an Frauenordination ...
Was während Wojtylas Amtszeit noch von dessen charismatischem Aktivismus mehr oder weniger gedeckelt worden war, kam unter Ratzingers selbst für Vatikan-Insider oft befremdlichem Agieren offen als Notstand zum Ausbruch. Das gilt vor allem für den internationalen Skandal um den sexuellen Missbrauch Zigtausender Kinder und Jugendlicher durch katholische Priester. Diese Enthüllungen brachen sich nun mit einer Macht Bahn, der das bereits durch diverse Eklats gebeutelte Krisenmanagement des Heiligen Stuhls nicht mehr gewachsen war. Zumal für die Vertuschung und Verschleppung auch Ratzinger Vorwürfe trafen. Verfügte er doch als Präfekt der Glaubenskongregation über Kenntnisse und Kompetenzen zur Verfolgung derartiger Delikte. Inzwischen gab es zwar administrative Verfügungen, die künftig Prävention und Aufdeckung erleichtern sollen. Doch selbst dieses tiefschwarze Kirchenkapitel ist für Benedikt kein Grund, endlich den solche Untaten begünstigenden strukturellen Ursachen ein Ende zu bereiten – den für Priester geltenden naturwidrigen sexuellen Sonderbestimmungen.
Aber, und das ist der Kern dieser und anderer Verweigerungen, es geht letztendlich immer um Kontrolle. Und dass Joseph Ratzinger in der Kontrolle über Menschen ein wesentliches Machtinstrument sieht, hat er in der Inquisitionsbehörde und auf dem Stuhl Petri deutlich gemacht.
Er machte es vor allem deutlich in seinem dreißigjährigen Krieg gegen die Befreiungstheologie, jene sich aus dem Hoffnungsreservoir des Zweiten Vatikanischen Konzils speisende Bewegung in Lateinamerika, die in ihrer »Option für die Armen« die unterdrückten und benachteiligten Massen als das vorrangige Wirkungsfeld der Kirche wiederentdeckte. In seinem jüngst erschienenen Jesus-Buch konstatierte der Feldherr befriedigt: »Inzwischen ist die Welle der Theologien der Revolution abgeflaut, die, von einem zelotisch (Zelot: jüdisch-religiöser Militanter – I. B.) gedeuteten Jesus her, Gewalt als Mittel zur Errichtung der besseren Welt – des ›Reiches‹ – zu legitimieren versucht hatten.«
Nein, es ging nicht in erster Linie, wie von Ratzinger unterstellt, um »Gewalt als Mittel zur Errichtung der besseren Welt«. Die tatsächliche Gewalt ging von rechten und reaktionären Regimen aus, von Oligarchien und ihren ausländischen Unterstützern, die jede »bessere Welt« für die Verelendeten verhinderten; die nicht davor zurückschreckten, mit Terror, Folter und Mord auch gegen jene zu wüten, die sich anmaßten, aus dem Evangelium Ansprüche auf menschenwürdiges Dasein bereits im Irdischen abzuleiten. Der US-amerikanische Theologe Matthew Fox, dem Ratzinger die Lehrerlaubnis entzog, klagt in seiner brillanten Streitschrift »Ratzinger und sein Kreuzzug« (die deutsche Ausgabe ist gerade im Arun-Verlag erschienen) den heutigen Papst an, dieser habe »die Theologie selbst umgebracht«.
Die Befreiungstheologen wendeten den Begriff der Sünde nicht mehr ausschließlich auf den einzelnen Menschen an, sondern übertrugen ihn auf politische, soziale, ökonomische Systeme und Strukturen – eine kreative, innovative und durchaus legitime Weiterentwicklung theologischer Lehre. Allerdings nicht im Verständnis des deutschen Glaubenswächters in Rom und seines polnischen Prinzipals, die Erlösung nicht als erstrebenswertes Ende irdischer Knechtschaft, sondern ausschließlich als verschwommene Verheißung nach dem irdischen Ende sahen. Den von der Befreiungstheologie geförderten Widerstand gegen rechte Regime und deren internationale Unterstützer werteten sie als marxistische Unterwanderung der Kirche.
Laut Matthew Fox hat das »Oberhaupt der wieder eingeführten Inquisition« rund 100 Theologen oder pastorale Führer zum Schweigen gebracht und sie in vielen Fällen entlassen, darunter zahlreiche Repräsentanten der Befreiungstheologie. Rückendeckung erhielt Ratzinger, so konstatiert Fox, dabei von den »konservativen Mitgliedern der deutschen Kirchenhierarchie«: »Johannes Pauls Einstellung zum Kommunismus wurde von den deutschen Bischöfen genährt, die schon vor Karol Wojtylas Aufstieg vehement gegen die ›sozialistischen‹ Tendenzen einiger südamerikanischer Kirchen waren.«
Keine Probleme hat Ratzinger/Benedikt hingegen mit rechten reaktionären Bewegungen wie dem Opus Dei oder den Legionären Christi, die ihren Einfluss im Vatikan unter seinem Pontifikat massiv ausbauen konnten. Gruppierungen, die den Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils mit offener Feindschaft begegnen, genießen das Wohlwollen des »Heiligen Vaters«. Mit der Rehabilitierung von vier Bischöfen der antimodernistischen und antiökumenischen Piusbruderschaft, darunter ein notorischer Holocaust-Leugner, brachte Ratzinger seine Kirche in eine peinliche politische Bredouille.
Der Schweizer Theologe und Papstkritiker Hans Küng urteilte, die Romkirche drohe sich unter Ratzinger »in Richtung einer Sekte zu entwickeln«. Das mag übertrieben klingen. Mit seiner Absage an alles, was dieser Kirche neue humanistische Impulse geben könnte, begünstigt Benedikt XVI. jedenfalls eine solche Entwicklung.
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