Auf den bunten Hund gekommen
Bilbao wandelte sich von der maroden Hafenstadt zum gefragten Kunstmekka
36 Sekunden! 36 Sekunden, um die Gran Via zu überqueren. In leuchtendem Grün zählen die Fußgängerampeln an Bilbaos breitestem und vielbefahrenen Einkaufsboulevard die Sekunden rückwärts, kleine Männchen laufen dazu als bewegte Animation in flottem Schritt vorwärts. Die meisten Menschen halten sich an die rot-grüne Diziplinierung. Hektisches Straßenhuschen, wenn’s eigentlich zu spät oder zu früh ist, mag in der Hauptstadt üblich sein, aber das große Madrid ist in Kilometern mindestens genauso weit entfernt wie in Mentalitäten. Geschäftige Hast erschiene unpassend hier im Baskenland, vielleicht wirkt das mitunter wechselhaft und eher unspanische Wetter und der kühlende Wind aus dem Golf von Biskaya besänftigend auf die Gemüter. Allerdings: Aufgedrehte Lebensfreude ist durchaus gegenwärtig in Bilbao. Immerhin sind die Basken ebenfalls Spanier, wenn auch welche mit sehr eigenem Kopf.
Wer sich am Abend in die schmaldunklen Gassen der Casco Viejo, Bilbaos Altstadt, begibt, der findet sie gerade in den warmen Sommernächsten wochen- wie wochenendtags überquellend mit Menschen. Junge wie Alte sitzen an den Restauranttischen, kleine Gruppen stehen umher, das Stimmgewirr schwillt in den Gassen an, ohrenbetäubend kann es dort sein, wo besonders viel Auftrieb ist. Eine bunte Mischung an Lokalitäten reiht sich aneinander, kaschemmige britische Pubs genauso wie kleine französisch anmutende Restaurants, chinesische Lokale oder spanische Bodegas, in denen rustikale Pinchos, die baskische Tapas-Variante, gereicht werden. Die hochaufgereckten, Jahrhunderte schweren Mauern trotzen dem quirligen Gassengewusel, die warme Luft und das surrende Gebabbel staut sich im Viertel, bis es durch die Siete Calles, die Sieben Straßen, hinausfließt bis zum Ría de Bilbao, dem sanft grünen Fluss, der sich geschmeidig durch die Stadt bis hin zu seiner Mündung in den Ozean schlängelt.
Vom Wasser lebte Bilbao viele Jahrhunderte, der Hafen lag und liegt geschützt, die nahen Bergwerke förderten hochwertiges Eisenerz, und der Schiffbau florierte. In den 70er und 80er Jahren ist diese große Zeit jedoch vorbei, Bilbao war zu einer maroden Hafenstadt geworden, ein untergehender Stern, dreckig, stinkend, durch die Industriekrise am Ende.
Mit einer Mischung aus Mut, Ideenreichtum, kämpferischem Willen und offenbar auch guten Verbindungen zu europäischen Finanzierungstöpfen gelang es Bilbao, sich am Schopf aus der Misere zu ziehen – und sich dank infrastruktureller Großinvestitionen in den 90er Jahren ein zukunftsweisendes Stadtgesichts-Lifting zu gönnen.
Am nachhaltigsten prägte der Kanadier Frank Gehry das neue Bilbao: Mit seinem Guggenheim-Museum schuf er den vielleicht spektakulärsten Besuchermagneten des ganzen Landes. Jährlich bis zu einer Millionen Menschen kommen mehr oder minder ausschließlich wegen des waghalsigen Baus, zu dem Gehry blitzende Stahlplatten formte. Bunt blühend steht der Jeff-Koons-Riesenwelpe davor, der eigentlich nur zur Einweihung den Platz schmuck bewachen sollte, den jedoch Einwohner wie Besucher so ins Herz schlossen, dass sie ihm ein dauerhaftes Bleiberecht ertrotzten – zu Recht, denn auf kaum einem Erinnerungsfoto der Stadt dürfte der geblümte Big-Size-Kunstkitsch fehlen. Pärchen vor »Puppy«, Hunde mit »Puppy«, Kinder, Väter, Mütter vor »Puppy«, der dackeltreu Fotoblitzen und weiß stechenden Sonnenschein erträgt.
Ein Tag kann vergehen in diesem Museum, ohne dass die Zeit lang wird. Großzügig sind die Ausstellungsräume angelegt, die vom Herzstück des Baus, einem lichten Atrium, aderförmig wegführen. Der Bau korrespondiert mit der Sammlung, die sich mitunter auch aus dem Eigentum der Guggenheim-Schätze aus New York (Solomon Guggenheim Museum) und Venedig (Peggy Guggenheim Collection) bedient, viel geht es hier um Installationen und Videokunst. Großformatig ist vieles vom permanent Ausgestellten, Jeff Koons’ blendend bunte »Tulips«, auch Louise Bourgeois’ überdimensionale Spinnenskulptur in direkter Flußnähe oder Richard Serras monumental stimmig in das Architekturganze verwobene tonnenschwere achtteilige Stahlskulptur »The Matter of Time« – und auch die wechselnden Werke stehen dieser Vorgabe hinsichtlich ihrer spektakulären Größe und künstlerischen Verblüffung nicht nach.
Als besondere Kulisse zeigt sich das Guggenheim übrigens denen, die direkt gegenüber im »Grand Hotel Domine« residieren, das sich stolz zu den »Leading Hotels of the World« zählt, fünf Sterne ausweist – und seinen Gästen auf weißen Tischdecken im siebten Stockwerk das exzellente Frühstück mit allerlei Obst, süßen Häppchen, deftigem Käse oder frisch zubereitetem Omelett mit Guggenheim-Blick serviert. Auch hier setzt man auf Architektur, die irgendwie frisch, farbenfroh, zeitgemäß ist.
Überhaupt: Gerade architektonisch überzeugt diese Stadt – mit viel verbliebenem altstädtischem Jugendstil oder Einzigartigem wie der (zuletzt leider störungsanfälligen) Puente de Vizcaya, der weltweit ältesten Schwebefähre, mit der Fußgänger, Fahrradfahrer und einige Autos sich im 10-Minuten-Takt in einigen Metern Höhe sanft von Ufer zu Ufer des Nervion gleiten lassen können.
Allerhand Neues, das irgendwo charmant auf dem Grat zwischen großspurigem Mut und extravaganter Lebensfreude balanciert, prägt die Stadt als Spielplatz für Leute mit Faible fürs Architekturfotografische. Norman Foster baute hier science-fiction-ähnliche U-Bahntunnel, Santiago Calatrav entwarf in kühner Konstruktion die Zubi-Zuri-Brücke, selbst das Museum der schönen Künste, eine der größten spanischen Sammlungen, die wesentliche europäische Werke vom 12. bis zum 21. Jahrhundert, darunter Gaugins, Cézannes, El Grecos und Goyas, beherbergt, hat sich vor einigen Jahren eine erfrischende bauliche Kur verordnet. Entlang des Bilbao-Flusses spielen Licht und Schatten entlang der neuen und alten Bauten waghalsig miteinander, schön ist das anzuschauen, erst recht mit einem der verwegenen Eiskugeln der kleinen Eisstand-Kette »Alaska« in der Hand.
»Alter Bilbaomond/ Wo noch die Liebe lohnt – 's ist doll mit dem Text/ 's ist schon so lange her – Ich weiß ja nicht, ob Ihnen so was grad gefällt, doch/ Es war das Schönste/Es war das Schönste/ Auf der Welt«, schreibt Brecht 1929 in seinem Bilbao-Song und betrauert das alte, untergehende Bilbao. Leider kannte er das neue nicht. Denn das ist möglicherweise noch besser.
- Infos: Spanisches Fremdenverkehrsamt, Kurfürstendamm 63, 10707 Berlin, Tel.: (030) 88 26-543, Fax:-661, E-Mail: berlin@tourspain.es, www.spain.info
- Guggenheim-Museum: www.guggenheim-bilbao.es
- Flüge: Direktflüge nach Bilbao gibt es von München, Frankfurt am Main und Düsseldorf aus; Anbieter: Air Berlin oder Lufthansa.
- Literatur: Jürgen Enders, Bilbao Impressionen - Texte und Bilder. Ein Stadtführer mit komplettem Info-Teil, 12,00 Euro; Marco Polo, Reiseführer Baskenland/Bilbao, 9,95 Euro; Michelin Baskenland: Der Grüne Reiseführer. Architektonische Kleinode, erloschene Vulkane und ursprüngliche Natur in sattem Grün, 19,90 Euro.
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