Kein Kommunismus mit K
Alle 15 Listenkandidaten der Piraten – 14 Männer, eine Frau – ziehen ins Abgeordnetenhaus ein. Weil einige von ihnen auch auf den Bezirkslisten angetreten waren, werden die knapp und es werden nicht alle Plätze in den Berliner Bezirksparlamenten besetzt werden können. Im Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg führt das jetzt möglicherweise zu einer Zusammenarbeit mit der LINKEN bei der Besetzung des Bezirksamts, angestrebt ist ein Zuschnitt »Bürgerbeteiligung und Transparenz«. Ein solches Amt gibt es allerdings in der Friedrichshain-Kreuzberger Verwaltung derzeit nicht.
Das zeigt, welche Themen den Piraten wichtig sind: Katalysator für ihr Wachstum war die Bewegung gegen die Internetsperren im Bundestagswahlsommer 2009. Die falsche Netzpolitik der damaligen Familienministerin Ursula von der Leyen (CDU) empörte viele, es gab eine Politisierung über das Netz. Die E-Petition gegen die Internetsperren, eingereicht von der Programmiererin Franziska Heine, ist die erfolgreichste in der Geschichte des Bundestags-Petitionssystems. Auch in der Presse fand Netzpolitik relevant statt. Bis zur Bundestagswahl 2009 wuchs die Mitgliederzahl der Piratenpartei auf mehr als 12 000.
Der Wahlerfolg blieb bis vergangenen Sonntag aus. Bei den Piraten gab es interne Streitigkeiten. Das 2009 angeschobene Parteiausschlussverfahren gegen den Holocaustrelativierer Bodo Thiesen, Pirat in Rheinland-Pfalz, ist bis heute nicht geklärt. Das ehemalige Bundesvorstandsmitglied Aaron König ist in der rechtspopulistischen »Freiheit« unterwegs. Richtungslosigkeit, Ziellosigkeit. Eine im nachhinein interessante Debatte ist die um »Liquid Feedback«, eine Software im Internet, mit der sich über Politik diskutieren und entscheiden lässt. Und damit um die Frage, ob vollständig anonyme politische Teilhabe möglich sein soll – oder ob jeder genau eine Identität haben soll.
Im Berliner Landtagswahlkampf setzte die Piratenpartei auf die Themen Transparenz, Demokratie und Recht, forderte unter dem Slogan »Mindestlohn ist eine Brückentechnologie« ein bedingungsloses Grundeinkommen, kostenlosen ÖPNV und in der Familienpolitik »eine Anerkennung aller Lebensformen«, also das Ende der Privilegierung der Ehe. Als einzige Partei plakatierte sie Drogenpolitik: »Suchtpolitik statt Drogenkrieg«. Im Wahlkampfspot sieht man zwei Schwule einen Kinderwagen schieben, kiffende Polizisten und Menschen auf Berliner Dächern, die dort Apparaturen für kabelloses Internet installieren.
Es ist möglich, dass die Partei, die lustig ist wie der Berliner Sommer, eine Eintagsfliege bleibt. Dass sich die Fraktion im Abgeordnetenhaus aus Überforderung oder Frustration zerstreitet und danach die ganze Partei zerfällt und am Ende in der politischen Bedeutungslosigkeit versinkt. Und ob sie anderswo als im urbanen, modernen Berlin Sympathien gewinnen kann, ist noch offen. Sollte sie sich auf niedrigem Niveau konsolidieren, ist sie eine Gefahr für linke Mehrheiten.
Denn: irgendwie links ist die Partei schon. Auch wenn sie lange denselben Spruch wie die Grünen in den Achtzigern klopfte: »nicht rechts, nicht links, sondern vorn«, so hat sich die Partei vor der Berliner Landtagswahl erstmals als »linksliberal« im politischen Spektrum einsortiert. Daten von Piraten-Mitgliedern, die den amerikanischen »political-compass«-Test in Internet gemacht haben, untermauern das. Man fordert halt das Grundeinkommen und nicht den Kommunismus mit K. Man macht Werbung mit »mehr Demokratie wagen« und bleibt gleichzeitig bei Fragen nach Willy Brandt bewusst, ja provokativ leidenschaftslos.
Möglicherweise hätten sich einige Wähler der Piratenpartei anders entschieden, wenn absehbar gewesen wäre, dass die rot-grüne Mehrheit im Senat gefährdet sein könnte.
Auch wenn die Partei linke Mehrheiten erschwert, so bereichert sie doch die Politik. Durch neu oder wieder politisierte Menschen, die sich sympathische politische Inhalte wünschen – und die vielfach einen modernen, netzwerk- und kommunikationsgeprägten Zugang zu Politik haben. Durch den Druck, den sie den etablierten Parteien macht und diese zwingt, sich mit Internet- und Datenthemen auseinanderzusetzen. Sie sieht sich selbst als Teil eines internationalen Piraten-Netzwerks.
Angesichts der nun offensichtlich gewordenen Männerlastigkeit ist die Piratenpartei selbst nun gezwungen, sich öffentlich mit Ge
schlechterpolitik auseinanderzusetzen – und viele Neu-Politiker, die glauben, dass sie selbst längst jenseits aller Geschlechterrollen leben, werden erkennen, dass Diskriminierungen aufgrund des Geschlechts und der sexuellen Orientierung ein größeres Problem ist, als sie vermutet haben. Auch das hat ein Gutes. Seien wir gespannt auf die Piratenpartei im Berliner Abgeordnetenhaus, in den BVV und vielleicht im Friedrichshain-Kreuzberger Bezirksamt – jetzt haben wir sie erst einmal für fünf Jahre an der Backe. Machen wir das Beste draus!
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