Zündstoff für Polens Wahlkampf
Versuch einer Selbstverbrennung vor dem Warschauer Regierungssitz
Die vor dem Regierungsgebäude postierten Wachleute eilten Andrzej Z. Mann sofort zur Hilfe. Mit schweren Verbrennungen wurde er in die Militärklinik transportiert. Ein Sprecher der Klinik sagte, akute Lebensgefahr bestehe nicht.
Der Mann hatte vorher zwei Briefe an eine Parkbank geklebt, einen an seine Frau und seine drei Kinder, den anderen, mit »ehemaliger PO-Wähler« unterzeichnet, an Regierungschef Donald Tusk.. Darin heißt es, er sei restlos verzweifelt und habe sämtliches Vertrauen in den Staat verloren. Mehrmals habe er sich an offizielle Stellen, darunter auch an Tusk selbst, gewandt und um Hilfe gebeten. Polizeisprecher Maciej Kar-czynski informierte lakonisch, der Mann sei in einer schwierigen finanziellen Lage gewesen.
Die Medien wussten Einzelheiten zu berichten: Andrzej Z., Jurist von Beruf, war von der Fahndungsabteilung für Wirtschaftskriminalität entlassen worden und hatte nach dreijähriger Arbeitslosigkeit eine Stelle bei der Steuerbehörde gefunden. Dort soll er Rechtsbrüche entdeckt und seinen Vorgesetzten gemeldet haben, worauf er bald erneut auf die Straße gesetzt wurde. Rechtsbrüche wurden nämlich von Kontrolleuren nicht bestätigt.
Premier Tusk unterbrach seine »Tour de Pologne« durch die Provinzen, eilte in die Hauptstadt, besuchte den schwer Verletzten am Krankenbett und ordnete an, den Fall sofort und allseitig zu untersuchen. Staatspräsident Bronislaw Komorowski appellierte aus New York, wo er vor der UNO-Vollversammlung eine Obama-treue Rede über die Palästinafrage hielt, an die Parteien, den dramatischen Fall doch bitte nicht zu Wahlkampfzwecken auszunutzen.
Natürlich wurde der Appell missachtet, beispielsweise von Jacek Kurski, EU-Parlamentarier der Oppositionspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS), aber auch von Aktivisten der Gruppe »Polen ist das Wichtigste« (PJN). Tusk habe in seiner vierjährigen Regierungszeit Millionen Menschen an die Grenze des Ertragbaren geführt, sagte Kurski. PiS-Chef Jaroslaw Kaczynski wollte den Selbstverbrennungsversuch nicht kommentieren, schwor aber, niemals von dem Manne einen Hilferuf vernommen zu haben.
Julia Pitera, Staatssekretärin im Amt des Regierungschefs, bestätigte den Eingang mehrerer Briefe von Andrzej Z., erklärte aber, diese hätten keine ernst zu nehmenden Beweise enthalten, übrigens sei die Steuerbehörde mehrmals kontrolliert worden, doch außer »geringen Unzulänglichkeiten, wie sie in jeder Behörde vorkommen«, hätten sich keine Anhaltspunkte für weitere Ermittlungen ergeben.
Das hinderte die »Gazeta Polska Codzienna« am Montag nicht, ihre Titelseite mit der Überschrift »Tusk lügt« zu versehen und eine ganze Seite mit mutmaßlichen Rechtsbrüchen beim Fiskus zu füllen. Der PO-Abgeordneter Stefan Niesiolowski warf der PiS vor, ein »ekelhaftes Spektakel« aus der Sache zu machen.
Ein Gedanke drängt sich auf: Sollten alle in finanzieller Not befindlichen Menschen in Polen so wie Andrzej Z. reagieren, wäre ein Flächenbrand wohl unvermeidbar. Und noch eine Bemerkung zum Thema: 1968 verbrannte sich während des Erntefestes im Warschauer Stadion ein Mann, der auf diese Weise gegen die Invasion in der CSSR protestierte. 1982 protestierte auf ähnliche Weise ein Mann gegen die »Solidarnosc«, die das Land bedrohe. Der erste, Ryszard Siwiec, war ein Held, der zweite wurde für verrückt erklärt.
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