Denkmal für einen Sammler

Prousts Mantel: Lorenza Foschini erzählt die Geschichte einer Leidenschaft

  • Klaus Bellin
  • Lesedauer: 4 Min.

Jaques Guérin wurde sehr alt. Er lebte in einem Schloss voller Herrlichkeiten und Schätze, die er eifersüchtig hütete und den Blicken Neugieriger entzog. Er besaß eine der größten Büchersammlungen Frankreichs, Erstausgaben von Baudelaire, Apollinaire, Picasso, Hugo, Cocteau, Rimbaud, dazu Briefe, Notizen, Korrekturbögen, Fotografien und Skizzen, gesammelt in einem langen Leben, darunter prachtvolle Stücke und Möbel seines Lieblingsautors Marcel Proust, die er vor der Vernichtung bewahrt hatte.

Zweimal kam sogar Staatspräsident Mitterand, um den ehemaligen Parfümfabrikanten zu ermuntern, das alles besser der neuen Nationalbibliothek zu überlassen. Guérin aber ließ sich nicht erweichen. Erst als er 90 war, entschloss er sich, die einzigartige Sammlung versteigern zu lassen. Das meiste ist seitdem weit verstreut. Beisammen blieben, neben schriftlichen Zeugnissen, immerhin die Gegenstände aus dem Schlafzimmer Prousts. Die schenkte Guérin dem Pariser Musée Carnavalet, wo sie in einem der Räume so ausgestellt sind, wie sie einst in der Rue Hamelin gestanden haben.

Die römische Journalistin Lorenza Foschini hat die außergewöhnliche, mitunter bizarre Geschichte dieser Sammelleidenschaft jetzt in einem kleinen, fesselnd erzählten Büchlein festgehalten. Begonnen hat es mit einer Blinddarmentzündung. Guérin wurde von Robert Proust, der 1922 am Bett seines sterbenden Bruders gesessen hatte, 1929 operiert, er bedankte sich später und sah dabei in der Wohnung des namhaften Chirurgen zum ersten Mal einige Erbstücke: Marcels massigen Schreibtisch, den viertürigen Bücherschrank, die vielen Notizhefte. Er nahm eine dieser Kladden in die Hand, er blätterte und starrte gebannt auf die vollgekritzelten Seiten, auf Wörter und Sätze, meist hastig notiert, manches auch gleich wieder gestrichen, und er dachte daran, wie der todkranke Autor in seinem metallenen Bett vor Jahren um sein großes Werk gekämpft hatte, um die »Recherche«, seinen mehrbändigen Roman »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit«.

Das Schlafzimmer im Winter unbeheizt, manchmal eiskalt, um das Asthma nicht zu verschlimmern, die Wände mit Kork verkleidet, so lag er da, von der Außenwelt isoliert, und trieb Nacht für Nacht mit unglaublicher Energie sein Epos voran, bis er im Morgengrauen eines Frühlingstages 1922 unter die letzte Seite das Wort »Fin« schreiben konnte.

Guérin, gepackt vom Jagdfieber, beschloss sogleich, nach allem zu suchen, was von Marcel Proust stammte oder mit ihm zu tun hatte. Geld spielte keine Rolle, seine Fabrik warf genug ab. Als 1935 auch Robert starb, kam seine größte Stunde. Die Witwe Marthe, auf den schreibenden Schwager nie gut zu sprechen, sah in den Erbstücken nichts als Krempel, unnützes Zeug, und sie eilte, das alles möglichst schnell loszuwerden. Aus den Büchern, die Marcel besaß, riss sie die Seiten mit den Widmungen heraus (damit der Name Proust, wie sie fand, nicht weiter mit Schande bedeckt würde), sie ließ den »Papierkram« des Schriftstellers, wahllos zusammengetragen, auf dem Hof verbrennen und Gegenstände, die Marcel gehört hatten, aus dem Hause schaffen.

Guérin kam gerade noch rechtzeitig, um zu sichern, was noch nicht vernichtet war: Möbel, Hefte, Briefe, Billets, Romanentwürfe, schließlich auch noch Prousts ziemlich ramponierten Wintermantel, der auf vielen Fotos zu sehen ist und den der Leidende manchmal sogar trug, wenn er im Bett lag. Später gelang es Guérin sogar, aus der gnadenlosen Marthe eine Vertraute zu machen.

Schon Robert war sorglos und autoritär mit dem Erbe umgegangen. Er fühlte sich sogar berufen, die Manuskripte des Bruders durchzusehen, zu verbessern, auch zu streichen, was ihm nicht gefiel. Jahrelang zögerte er die Publikation der letzten Romanbände hinaus. Gaston Gallimard, der Verleger, und Rivière, der Herausgeber (der krank und entnervt schließlich das Handtuch warf), standen auf verlorenem Posten. Nichts half, weder Bitten noch Appelle. Robert, ein wachsamer, selbstherrlicher, auf den Ruf der Familie bedachter Hüter, rückte lange kein einziges Blatt heraus. Dann bestand er auf Korrekturen und Auslassungen. Erst mit erheblicher Verspätung gelangten die letzten Teile des Romans 1927 in die Hände der Leser.

Man muss lange suchen, um in der Geschichte des Proustschen Nachruhms auf den Namen Guérin zu stoßen. Dank Lorenza Foschini, die zufällig auf seine Spur geriet, wissen wir nun, dass der besessene Franzose, der zuletzt wie ein Renaissancefürst über seine Schätze wachte und alle abwimmelte, die sie sehen wollten, mehr als eine winzige Fußnote in dieser verwickelten Geschichte war. Die Italienerin hat, neugierig geworden, keine Ruhe gegeben und die abenteuerliche Bewahrung der Papiere und Gegenstände in allen Einzelheiten und Wendungen (und mit mancher Überraschung) ans Licht gebracht. Hier, in dieser sympathischen Reportage, hat sie dem Sammler Guérin, der im August 2000 mit 98 Jahren starb, ein liebevolles und ergreifendes Denkmal gesetzt.

Lorenza Foschini: Prousts Mantel. Die Geschichte einer Leidenschaft, Verlag Nagel & Kimche, 126 S., geb., 14,90 €.

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