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Er musste mit eigenen Augen sehen

AUSCHWITZ

Diese Geschichte ist so unglaublich wie sie wahr ist. Denis Avey hat sich in das Todeslager Auschwitz geschmuggelt: »Ich musste mit eigenen Augen sehen, was dort geschah.«

Seine Erinnerungen eröffnet der Brite mit der Schilderung eines Empfangs in der Londoner Downingstreet No. 10. Premier Dan Brown und Gattin Sarah ehren den 91-jährigen Veteran als einen Helden des Holocaust, »ein bewegendes Erlebnis für mich ... Ich bekam eine Medaille aus massivem Silber mit der Gravur ›Im Dienst der Menschlichkeit‹«. Anschließend verrät Denis Avey einem Journalisten, dass er nun als glücklicher Mann sterben könne. Eine Last sei ihm von der Schulter genommen. Wie er am Ende seiner Memoiren berichtet, hat nicht nur er Jahrzehnte gebraucht, ehe er über seine traumatischen Erlebnisse im Krieg und in Auschwitz erzählen konnte. Die britische Gesellschaft überließ ihre Soldaten, die unter hohen Opfern zur Niederringung des Faschismus beigetragen haben, ihrem Schicksal, interessierte sich nicht für deren Leiderfahrungen. (Ähnliches Desinteresse ereilt heute den aus den Kriegen in Irak und Afghanistan Heimkehrenden). Überdies wurde jenen, die für Hitlerdeutschland Zwangsarbeit leisten mussten, vorgeworfen, den Feind gestärkt zu haben (wie auch in Stalins Sowjetunion.)

Der rothaarige Liverpooler hat sich freiwillig gemeldet, als der Krieg ausbrach. Er wird nach Afrika geschickt. Als er dort anlangt, ist auch sein Vater, ein Ratsschreiber »mit Herz für die kleinen Leute«, in die Armee eingetreten, hoffend, in die Nähe des Sohnes zu gelangen. Das gelingt nicht. Der Vater gerät auf Kreta in Kriegsgefangenschaft und wird zur Zwangsarbeit nach Deutschland deportiert. Nach 1945 sprechen Vater und Sohn nicht über den Krieg. Er ist auch in der Familie tabu.

Denis kämpft in der Wüste gegen Mussolinis und Rommels Soldaten. »Verstümmelte Körper lagen im Staub, von Fliegen umschwirrt. Ich sah abgetrennte Arme und Beine ...« Les, Freund aus unbeschwerter Jugendzeit, wird neben ihm von einer Granate zerfetzt. Die Details seines grausamen Todes wird er später dessen Vater ersparen.

Auch Denis gerät in Gefangenschaft. Der Frachter, der ihn und Leidensgefährten nach Europa übersetzen soll, wird von einem Torpedo getroffen. Denis klammert sich an eine Holzkiste, strandet an griechischer Küste, wird aufgegriffen, durchlebt mehrere Gefangenenlager, flieht, wird wieder eingefangen und in ein Arbeitslager mit der Kennung E 517 interniert, das sich südlich der polnischen Stadt Oswiecim befindet. »Überall auf der Baustelle sahen wir merkwürdige Gestalten, die sich schleppend bewegten ... Alle trugen zerlumpte, schlecht sitzende gestreifte Hemden und Hosen, die mehr nach Pyjamas als nach Arbeitsanzügen aussahen. Sie hatten graue Gesichter und geschorene Köpfe .... Sie erinnerten an sich bewegende Schatten, gestaltlos und verschwommen, als könnten sie jeden Augenblick ins Nichts verblassen.« Denis erfährt, dass es Juden aus dem KZ Auschwitz sind. Sie müssen für die IG Farben schuften, die nicht nur für Hitlers Kriegsmaschinerie, sondern auch das Zyklon B für ihre systematische Ermordung produziert. »Eines Tages kam Franz nicht mehr, ich fragte jemanden aus dem Kommando ... Er zeigte mit beiden Händen nach oben und sagte: ›Er ist durch den Schornstein gegangen.‹« Jetzt wurde es Dennis klar, woher der »widerliche Gestank« rührte. Von Krematorien.. »Aber Hörensagen allein genügte mir nicht.« Der Kriegsgefangene tauscht seine Uniform gegen das Häftlingsdrillich eines holländischen Juden, mit dem er sich angefreundet hatte. Abends marschiert er statt Hans ins KZ. Das Grauenvolle, was er hier sieht, übersteigt alle grauenvollen Kriegserlebnisse. Wieder zurück in seinem Lager schreibt er in verschlüsselten Zeilen der Mutter, was in Auschwitz geschieht. Sie möge das Kriegsministerium informieren. Er kann nicht wissen, dass über andere Kanäle (u. a. durch den Polen Jan Karski) die ungeheure Nachricht vom Massenmord an den Juden die Alliierten schon erreicht hat, jedoch auf Ungläubigkeit stößt.

»Dass ich nichts dagegen unternehmen konnte, besudelte mich«, schreibt Denis Avey. Er will etwas tun, helfen. Er sucht und findet brieflichen Kontakt zur Schwester von Ernst aus Breslau; sie war vor dem Krieg dank Kindertransport nach Birmingham gelangt. Durch Denis erfährt sie, dass ihr Bruder noch lebt.

Dies ist ein erschütternder, berührender Bericht. Es ist gut, dass sich Denis Avey, ermuntert vom BBC-Journalisten Rob Broomby, entschlossen hat, Zeugnis abzulegen von einem unmenschlichen, barbarischen System. Gerade, da Holocaustleugner wieder Morgenluft wittern. Denis Avey ist den Albtraum nicht los. Noch heute erscheint ihm das blutüberströmte Gesicht eines jüdischen Jungen, den ein SS-Mann niedergeknüppelt hatte.

Denis Aey/Rob Broomby: der Mann, der ins KZ einbrach. Bastei Lübbe. 360 S., geb., 19,99 €

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