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Verborgene Gewalt
Emmanuelle Pagano: »Bübische Hände«
Es muss Schlimmes passiert sein. Das vermutet man bereits nach den ersten Seiten. Im Notizbuch der Putzfrau findet die Frau eines südfranzösischen Weingutbesitzers Gedichte, in denen Gewalt allgegenwärtig ist. Sie erfährt daraus, dass ihr Mann zusammen mit dieser Frau zur Schule ging. Dass dort, in der fünften Klasse, ein Jahr lang Kinder von gleichaltrigen Klassenkameraden missbraucht worden sind. Immer wieder kommt die Erzählung auf das damals Geschehene zurück. Eine Erzählung, die aus Stimmen besteht, die in einem Bewusstseinsstrom aussprechen, was ihnen gerade durch den Kopf geht. Das erinnert an William Faulkners »Schall und Wahn«. Wie bei Faulkner werden in »Bübische Hände« keine Namen genannt (bis auf eine Ausnahme). Wer spricht, lässt sich nur über den Kontext herausfinden. Frauenstimmen: die Frau des Weingutsbesitzers, ihre Putzfrau, eine alte Mutter (deren Söhne und deren Schwiegertochter ebenfalls zusammen mit der Putzfrau zur Schule gingen), ihre Enkelin sowie die inzwischen über achtzig Jahre alte Lehrerin.
Die Frauen, die sprechen, sind verletzt worden. Sie können nicht unmittelbar über die Ursache ihres Leidens reden. Mit Hilfe von Symbolen und Metaphern versuchen sie, das Unaussprechliche auszudrücken. Oder mit ihrem Körper, im Schmerz und in der Neurose. Gleichzeitig hat man das Gefühl, hier würde eine Katastrophe ästhetisiert. Man fragt sich, ob das notwendig ist, um die Botschaft des Buches zu transportieren. Eine Botschaft, die vor Kindesmissbrauch warnen will (auch den von Kindern an Kindern), vor dem Nicht-Sprechen, dem Verdrängen und Vergessen, vor dem Wegsehen der Erwachsenen und - das ist auch eine Konsequenz des Textes - vor den Männern?
Die stehen in »Bübische Hände« letztlich alle als Täter da, sind in diesem weiblichen Chor der Stimmen die eigentliche Ursache der Tragödie, allerdings eine, ohne die die Geschichte nicht funktionieren würde, weil sie das Leiden der Mädchen und Frauen (und damit die Stimmen) erst hervorrufen. Der schwule zweite Sohn der alten Frau ist der einzige, der einen Namen erhält: Claude. Vielleicht, weil er als einziger damals am Missbrauch des Mädchens nicht teilgenommen hat? Aber dann entdeckt seine Mutter bei ihm Nacktfotos von kleinen Jungen. »Wäre er nicht mein eigener Sohn, würde ich sagen, er ist ein Fremder ...«
Emmanuelle Pagano: Bübische Hände. Aus dem Französischen von Natalie Mälzer-Semlinger. Wagenbach. 144 S., geb., 16,90 €.
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