Der Urwald vor der Haustür
Mit dem Tierfilmer Andreas Kieling durch nagelneues UNESCO-Weltnaturerbe, den Buchenwald Grumsin in Brandenburg
So ungefähr muss er aussehen, der Wald, in dem sich Hänsel und Gretel hoffnungslos verirrten: Uralte, dicht stehende, hohe Bäume, dazwischen Moore, Bäche und mit einem grünen Teppich aus Entengrütze bedeckte Seen. Hier und da liegen von der Zeit gefällte Bäume, dick bewachsen mit weichem Moos. Mannigfaltige Geräusche schwirren durchs Unterholz und dringen aus den dichten Wipfeln der Baumriesen. Ein bisschen unheimlich, und doch so schön, dass man, ohne es zu merken, immer weiter, immer tiefer hineinläuft.
Genau so ist es im »Buchenwald Grumsin«, mitten im Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin in der Uckermark. Wer da von einem Märchenwald spricht, liegt gar nicht so falsch. Denn vor wenigen Wochen, am 25. Juni, erhielt er den Ritterschlag, wurde gemeinsam mit vier anderen Buchenwäldern Deutschlands in die Königsklasse, das UNESCO-Weltnaturerbe aufgenommen, und somit auf eine Stufe mit dem Grand Canyon in den USA und der Serengeti in Tansania gestellt.
Das allerdings ist nicht der einzige Grund, weshalb Andreas Kieling, einer der bekanntesten Tierfilmer und Naturfotografen Deutschlands, mit seiner Hündin Cleo und ein paar Naturbegeisterten an diesem kühlen, trüben Herbsttag durch den Buchenwald Grumsin wandert. Er, der die halbe Welt gesehen hat, Wüsten und Regenwälder durchschritt, Grizzlys mit der Kamera so nah kam, wie kaum ein anderer, der für seine Expeditionsfilme mit Preisen überschüttet wurde und Millionen fasziniert an die Glotze fesselte, hat sich vor zwei Jahren in die Landschaft Brandenburgs verguckt. Damals war er 1400 Kilometer quer durch Deutschland gewandert, um am Ziel, an der Ostsee, festzustellen, dass ihn die Tour »extrem emotional aufgewühlt« habe. Fünf Filme, die im ZDF sowie bei arte mit großem Erfolg liefen, und ein Buch, das seit Wochen ein Bestseller ist, waren Ergebnis dieser Wanderung durch die Heimat.
Bei Kieling wuchs der Wunsch, noch einmal loszuziehen, mit mehr Zeit die Regionen unter die Füße zu nehmen, die ihn besonders beeindruckt hatten. Brandenburg beispielsweise: Weil die in großen Teilen dünnbesiedelte Region viele »außergewöhnliche Landschaften« habe, die er unbedingt entdecken will und in denen »man, mehr als anderswo, die Seele baumeln lassen kann«. Der Buchenwald Grumsin sei so ein Stückchen Abenteuer vor der Haustür, so Kieling, nicht weniger aufregend und spannend, als eine Tour durch die stillen Weiten Grönlands oder die schroffe Bergwelt des Himalajas.
Die Brandenburger Touristiker hören das gern und wollen im nächsten Jahr gemeinsam mit Andreas Kieling noch mehr Naturfreunde für eine »Safari Marke Brandenburg« begeistern, wie eine ihrer Naturkampagnen heißt. Warum nicht mal mit einem Kanu durch einen verwilderten Oderarm und Biber beobachten, mit dem Floß durch stille Gewässer, an deren Ufern man dem Eisvogel, dem »fliegenden Edelstein«, begegnen kann. Oder durch einen eiszeitlichen Urwald, wie den Buchenwald Grumsin, streifen? Immer samstags und sonntags bietet das NABU-Informationszentrum Blumberger Mühle in Angermünde nach Voranmeldung geführte Touren ins Weltnaturerbe an. Denn zumindest die sogenannte Kernzone, eine 560 Hektar große Fläche im insgesamt 6000 Hektar großen Biosphärenreservat Schorfheide-Chorin, darf man nur mit einem ausgebildeten Naturführer betreten. Das dient dem Schutz des Buchenwaldes, der sich so langsam zurück in einen Urwald verwandeln kann.
Die Wandergruppe mit Hund ist mit Tim Taeger, einem Experten in Sachen Naturschutz, unterwegs. Tiefer und tiefer führt er uns in den »verwunschenen« Wald, ohne ihn hätten wir uns sicher hoffnungslos verlaufen. Doch Taeger kennt sich aus und weiß allerhand über den Buchenwald zu erzählen. Nur Cleo interessiert das alles wenig. Sie zerrt ihren Wanderpartner energisch vorwärts, die Nase immer knapp überm Boden. Was sie mit ihrer feinen Nase wohl riecht? Wir, in dieser Hinsicht Grobgeschnitzte, verlassen uns da lieber auf Augen - und Ohren. Denn so manches, was der Naturschützer in welken Blättern, Steinen, Moosen oder knorrigen Baumwurzeln sieht und liest, ist für uns nicht ganz so leicht zu erkennen. Zum Beispiel, dass das Gelände des Grumsiner Forstes von der Eiszeit geprägt wurde. 70 000 bis 12 000 Jahre ist es her, da fanden hier gewaltige Erdverschiebungen statt, durch die tiefe Senken und schroffe Höhenzüge entstanden. Bis sich ein riesiger Wald ausbreitete, vergingen noch einige erdgeschichtliche Wimpernschläge.
300 Jahre können Buchen locker alt werden, hier findet man noch einige solcher Methusalems. Dass sie nicht, wie anderswo, irgendwann der Säge zum Opfer fielen, um die Flächen in Ackerland und Weiden zu verwandeln, hat seine Ursache wohl vor allem im schwierigen Geländeprofil. Diesen Wald zu roden, war einfach zu mühselig, zu unwirtschaftlich und so überlebte er, trotz gelegentlicher Baumeinschläge, die Jahrhunderte und ist heute der größte zusammenhängende Tieflandbuchenwald Europas. Wurde der Wald zu DDR-Zeiten noch als Staatsjagdgebiet genutzt, überlässt man ihn seit gut 20 Jahren sich selbst. So kann er sich in das zurückverwandeln, was er einst war - in einen Urwald.
Schon heute ist der Prozess zu erkennen, immer wieder versperren umgestürzte Bäume den Weg. Tim Taeger zeigt uns an so einem toten Riesen, dass der in Wirklichkeit ziemlich lebendig ist. Es wimmelt in und auf ihm nur so von Holzinsekten, die hier Wohnung und Nahrung zugleich finden, und den Baum in ein paar Jahren vollständig zerlegen werden. So entsteht der ideale Boden für viele unterschiedliche Pflanzen, darunter nicht wenige, die auf der Roten Liste der bedrohten Arten stehen. Das Bleiche Waldvögelein zum Beispiel oder die Sumpf-Calla. Insgesamt, so Taeger, wurden im Gumsiner Wald 349 Pflanzenarten nachgewiesen.
Auch die Tierwelt weist eine große Artenvielfalt auf. Manch einer nimmt eine lange Anreise auf sich, um in der Uckermark einige der zwei- oder vierbeinigen Waldbewohner zu beobachten, die in anderen Teilen Deutschlands kaum noch vorkommen. Außer der Liebe zur Natur sollten sie aber schon viel Geduld und Ausdauer und ein Fernglas mitbringen. Denn nicht alle Tiere präsentieren sich den Blicken so nah und freimütig wie die bienenfleißigen Arbeiter im Totholz. Der Schwarzspecht macht sich eher in den höheren Etagen der Bäume zu schaffen, und auch der vom Aussterben bedrohte Seeadler tritt nicht unbedingt im Dutzend auf. Er hat hier im Schutz des Waldes, wo es ausreichend wasserreiche Nahrungsstellen gibt, genauso seine Brutgebiete wie der Kranich oder der seltene Schwarzstorch.
Mit etwas Glück begegnet man auch solchen Exoten, wie dem blauen Moorfrosch. Wir allerdings mussten uns mit einem weniger attraktiven und häufiger vorkommenden Laubfrosch begnügen. Der allerdings war wohl so überrascht über den seltenen Menschenbesuch in seinem Reich, dass er wie erstarrt sitzenblieb. Oder war's gar der Froschkönig? Möglich ist alles in so einem schönen Märchenwald.
- Infos zum Buchenwald Grumsin: NABU-Informationszentrum »Blumberger Mühle«, Blumberger Mühle 2, 16278 Angermünde, Tel.: (03331) 26 04-0 oder beim Tourismusverein Angermünde e.V., Tel.: (03331) 29 76 60; www.weltnaturerbe-buchenwaelder.de
- Infos zu Naturtourismus in Brandenburg: TMB Tourismus Marketing Brandenburg GmbH, Am Neuen Markt 1, 14467 Potsdam, Tel.: (0331) 200 47 47, Fax: (0331) 298 73 28, E-Mail: service@reiseland-brandenburg.de, www.reiseland-brandenburg.de sowie www.naturreisen-brandenburg.de
Lese- und Schautipp:
1400 Kilometer wanderte Andreas Kieling entlang des »Grünen Bandes«. Daraus entstand: »Ein deutscher Wandersommer«, Malik Verlag, 304 S., ISBN: 978-3-89029-393-6, 22,95 €.
Unter www.youtube/naturerlebnis kann man sich acht kurze Filme zum Naturtourismus in Brandenburg anschauen.
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