Wie lang leben Obdachlose?

Jens Rannenberg über das Versagen des Sozialstaats / Rannenberg ist Vorsitzender der Evangelischen Obdachlosenhilfe, dem größten Träger der deutschen Wohnungslosenhilfe

  • Lesedauer: 3 Min.
Fragwürdig – Wie lang leben Obdachlose?

ND: Das durchschnittliche Todesalter von Wohnungslosen beträgt hierzulande 46,5 Jahre. Das ist eine 30 bis 40 Jahre geringere Lebenserwartung als die von Menschen, die eine Wohnung haben.
Rannenberg: Die meisten, mehr als 75 Prozent, sterben allein, ohne einen Trost oder ein letztes Gespräch oder Gebet. Das hängt damit zusammen, dass unser Gesundheitssystem auf diese Klientel nicht vorbereitet ist. Wenn Betroffene, die von der Straße kommen, ins Krankenhaus eingeliefert werden, ist es so, dass sie nach der Versorgung, die ihnen zuteil wird, im Regelfall nach kurzer Zeit direkt auf die Straße entlassen werden.

Was sind die Ursachen für die geringe Lebenserwartung?
Sie finden bei den Betroffenen oft Suchtabhängigkeiten. Das ist der eine Faktor. Der zweite große Faktor ist das Leben auf der Straße. Der dritte Punkt ist die Vereinsamung, die eine große Rolle spielt. Insgesamt gesehen ist es so, dass diese gesundheitsbelastenden Lebensumstände dazu führen, dass die Lebenserwartung geringer ist.

Hilfe in Krankenhäusern wird oft nicht geleistet, weil viele Obdachlose, die medizinische Hilfe benötigen, als finanzielle Belastung wahrgenommen werden.
Krankenhäuser, die mit diesen Menschen konfrontiert sind, sind darauf nicht eingerichtet. Die Menschen werden im Regelfall auf Mehrbettzimmer gebracht. Es ist manchmal schwierig, sie dort zu betreuen. Deswegen haben die Krankenhäuser oft das Interesse, möglichst kurze Verweilzeiten herzustellen. Der zweite Punkt ist, dass die Krankenhäuser auch erst mal nur die notwendige Versorgung refinanziert bekommen.

Hat der sogenannte Sozialstaat nicht auch eine Verantwortung für die von Obdachlosigkeit Betroffenen?
Natürlich. Es wäre die Aufgabe der Kommunen, dafür Sorge zu tragen, dass für diese Klientel etwas getan wird.

Der Anteil junger Menschen, die in Armut leben und von Obdachlosigkeit bedroht sind, nimmt zu. Worauf ist das zurückzuführen?
Früher war es so, dass Obdachlose noch eine Berufsbiografie hatten und dann durch verschiedene Lebensumstände aus den normalen Erwerbsbiografien herausgefallen sind. Das gibt es heute auch noch. Im Regelfall sind es aber heute 30- bis 35-Jährige, die keine Erwerbsbiografie mehr mitbringen, die aus den Familien und normalen Systemen vollständig herausgefallen sind und meistens von einer Wohnung zu nächsten wandern oder auf der Straße leben. Das hängt damit zusammen, dass etwa ein Drittel unserer Gesellschaft immer mehr ausgegrenzt wird und dass die entsprechenden Versorgungen und Ausbildungssysteme an der Stelle versagen.

Sie würden also dem Staat eine Mitverantwortung geben?
Die aktuelle Reform der Bundesministerin von der Leyen setzt ja genau an diesen Stellen an, wo es noch Hilfesysteme und Instrumentarien der Bundesanstalt gibt, um für diese Klientel Ausbildungs- möglichkeiten zu schaffen. Genau dort wird auch weiterhin eingespart. Da merken Sie, in welche Richtung das geht. Von allen Wohlfahrtsverbänden wird mittlerweile auch kritisiert, dass genau da, wo der höchste Bedarf ist, am meisten eingespart wird.

Interview: Thomas Blum

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