Geschichtsarbeiter in der Po-Ebene
Wie Deutsche in Italien die Erinnerung an die Resistenza aufrecht erhalten
Dreieinhalb Kilometer Regalböden sind bereits voll. Das Archiv des Instituts für die Geschichte der Resistenza und die Zeitgeschichte in Reggio Emilia (Istoreco) wuchs in den letzten Jahren erheblich. In dem ehemaligen Klostergebäude mit mehreren Höfen breiten sich die Dokumente über den Faschismus, den Partisanenkampf und die Nachkriegsgeschichte der Provinz immer weiter aus.
Das liegt vor allem daran, dass immer mehr Institutionen und Einzelpersonen historische Dokumente im Istoreco einlagern lassen. »Erst vor ein paar Tagen sind mehrere Kisten mit Bauplänen für Kampfflugzeuge aus dem Zweiten Weltkrieg eingetroffen«, sagt Matthias Durchfeld bei einem Rundgang durch die Räumlichkeiten. Auch die Archive der Kommune und der Provinz Reggio Emilia sind inzwischen beim Istoreco untergebracht. Dabei wurde das Institut in den 60er Jahren als Archiv des antifaschistischen Widerstands aufgebaut, weil sich die italienischen Regierungen lange nicht für die Aufarbeitung dieses Teils der Landesgeschichte interessierte. »Inzwischen steckt hier die ganze Erinnerung unserer Stadt und unserer Provinz«, erklärt Massimo Storchi, der Leiter des Archivs.
Doch das Istoreco ist längst mehr als Archiv und Bibliothek, wo Wissenschaftler, Journalisten, Schüler oder Geschichtsinteressierte recherchieren können. Regelmäßig erstellen die wenigen Angestellten und freien Mitarbeiter - darunter auch Rentner und Praktikanten - Publikationen, organisieren Diskussionen und Schulprojekte sowie Bildungsreisen. Diese Fahrten stellen heute eine wichtige Kontinuität in der Arbeit dar. Nicht nur einheimische Interessierte werden nach Auschwitz oder Berlin begleitet. Seit fast 20 Jahren finden auch regelmäßig Bildungsreisen für Deutsche nach Italien statt.
Dafür haben ausgerechnet zwei Deutsche gesorgt. So hatte sich Matthias Durchfeld 1993 zum 50. Jahrestag der Besetzung Italiens durch Nazi-Deutschland an das Istoreco gewandt, um die erste Fahrt von Deutschen an Orte der Resistenza zu organisieren. Heute sind die jährlichen »Sentieri Partigiani« bereits Monate im Voraus ausgebucht. In diesem September führten Durchfeld und seine Kollegen 100 Besucher in die Apenninen der Emilia. »Die Zeitzeugen werden in wenigen Jahren verstorben sein. Das haben die Leute verstanden«, begründet der Historiker das große Interesse.
Das in Italien verständlich zu machen, ist mit deutscher Herkunft nicht unbedingt einfacher. »Es gibt immer wieder Bemerkungen oder auch Scherze«, so Durchfeld. Selten habe er aber negative Reaktionen erlebt. »Manche Partisanen empfinden es auch als späte Genugtuung, dass ihnen jetzt Deutsche zuhören.«
Seit September arbeitet mit Milan Spindler ein weiterer Deutscher beim Istoreco. Er absolviert hier ein Freies Soziales Jahr, weil er davon überzeugt ist, dass »man bewusst und verantwortungsvoll mit der Geschichte umgehen und sie für die Zukunft nutzen muss«. Der 20-Jährige ist nun bei Zeitzeugengesprächen und Reisen dabei. »Das ist etwas anderes, als wenn man über diese Ereignisse in Schulbüchern liest. Und ich bin jetzt schon so viel gewandert wie in meinem ganzen Leben noch nicht«, sagt Spindler nach seinem ersten Monat in Reggio Emilia.
Im Winterhalbjahr haben die Istoreco-Mitarbeiter mehr Zeit für andere Projekte. Gegenwärtig wird ein Film über das Massaker und die Zerstörung des Bergdorfs Cervarolo durch Wehrmachtssoldaten produziert. Protagonist ist eine Geige, die das Massaker überstanden hat. »Auch eine Geige kann zum Zeitzeugen werden«, erklärt Durchfeld die Idee. Für den »Geschichtsarbeiter«, als den er sich selbst bezeichnet, lassen auch Orte und Gegenstände Historie erlebbar werden, selbst wenn die Menschen nicht mehr da sind.
Informationen zu aktuellen Projekten des Istoreco gibt es auch in deutscher Sprache unter www.istoreco.re.it. Weitere Informationen zu diesem Thema in unserem Internet-Dossier unter neues-deutschland.de/roteemilia
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