Im Westen was Neues
Postdemokratische Zustände in Europa
Inzwischen hat die Debatte um »postdemokratische Zustände« ihren Weg in europäische Feuilletons gefunden. Zuerst aufgetaucht war der Begriff »Postdemokratie« im Titel eines 73-seitigen Arbeitspapiers, das die britische »Fabian Society« im Jahr 2000 veröffentlichte. Detailliert stellte der Soziologe Colin Crouch, der sich in dieser Denkfabrik der britischen Labour Party engagiert, seine Argumente drei Jahre später in dem Buch »Postdemokratie« (dt. 2008) dar. Entpolitisierte Entscheidungsprozesse und ein scheinbares Herrschen durch Expertise werden dabei als Symptome für den Rückzug der Demokratie beschrieben, wobei das Volk als Souverän die Macht im politischen Geschehen verloren hat. Es hat aus Desillusionierung und Langeweile abgedankt und das Feld einer Elite überlassen, die vorgibt, die Interessen aller zu vertreten. Zu diesem Zweck werden Experten-Kommissionen gegründet, die akademisch weise Ratschläge formulieren, über die sich vorher jedoch schon in geschlossenen Clubs verständigt wurde. Wahlen vermeintlicher Volksvertretungen sind unter diesen Umständen nur noch inszenierte Schaukämpfe, klagt Crouch.
Weltweit ist dasselbe Phänomen zu beobachten: Eine Nouvelle Noblesse hat die plutokratische Herrschaft übernommen, während das alte Recht weiter arbeitet und die alten Institutionen intakt bleiben. Es sind jene wenigen - wenn auch mehr als das derzeit von der Occupy-Bewegung verrufene eine Prozent -, die wirtschaftlich und politisch von den kleinbürgerlichen Verhältnissen losgelöst leben und sie doch bestimmen wollen. Jene, die ohne Unrechtsbewusstsein Firmen und Banken ruinieren können oder sich akademische Titel als Pendant zum Adelstitel erschleichen.
Der Abschied von der demokratischen Gesellschaft vollzieht sich schleichend und ungeplant. Dieser Wandel ist nicht das strategische Meisterwerk eines Tony Blair oder eines Silvio Berlusconi. Jedes Land hat seine historisch gewachsene, spezielle Form entwickelt. Die britische etwa wird vom Mehrheitswahlrecht und einem immer noch bestehenden Klassendünkel unterstützt, während die demokratische Kultur Italiens mafiotisch zerfällt, was per Fernsehen in Europa ausgestrahlt wird. In den postdemokratischen Ländern des Ostens musste sich der »neue Adel« besonders schnell selbst erschaffen und ist vielleicht deshalb besonders unverfroren. Hier ist er offen auch eine Noblesse d'Egoisme, ein egoistischer, gieriger Geldadel. Dabei orientieren sich auch Wladimir Putin und die russische Schickeria an internationalen Standards. Weil sie dazugehören wollen, bewahren sie - anders als China - die demokratische Fassung.
»Postdemokratische Zustände« lassen sich aber auch mit Ignoranz und selbstverschuldeter Dummheit beschreiben. Heute, da viele Informationen so frei verfügbar sind wie niemals zuvor, kann man fast alles wissen, wenn man nur will. Gleichzeitig wird niemand gezwungen, sich sinnlose TV-Shows anzusehen, Esoterik-Seminare zu besuchen oder langweilige Streitschriften von Rassisten zu lesen. Das verbreitete Desinteresse ist ein Symptom für das langsame Absterben der Demokratie in Europa. Gleichwohl ist es sozial begründet und auch in Amerika oder Asien zu beobachten. Soziale Teilhabe ist in den Ländern der westlichen Welt nicht mehr für alle gegeben, anders als zu Zeiten der Systemkonfrontation zwischen Ost und West. Die reale Möglichkeit, sich aus den Umständen herauszukämpfen, in die man unverschuldet hineingeboren wurde, ist heute auch in den OECD-Staaten wieder weitgehend ein Trugbild. Der Fahrstuhl fährt nun auch für die Mittelschicht hinab in die tiefer gelegenen Etagen der Gesellschaft.
Ohne Teilhabe an gesellschaftlichen Entwicklungen jedoch besteht kein Grund, in der Gesellschaft mehr zu sehen als nur eine Umgebung, die möglichst nicht stören soll. Vielleicht ist es sogar ein fremdes System, gegen dessen Ansprüche man sich wehren darf, denn einen wie auch immer gearteten Gesellschaftsvertrag hat man ja nicht unterschrieben. Das Interesse an dieser Gesellschaft schwindet in deren ohnmächtigem Teil am schnellsten.
Die gegenwärtige gesellschaftliche Segregation ist eine Doppelbewegung. Das alte Milieu, der Rückhalt in der Arbeiterbewegung, ist nicht mehr existent. Zugleich wird am sozialpolitischen Grundgerüst gerüttelt, das sich die Nouvelle Noblesse nicht mehr leisten will, denn sie will sich dem globalen Wettbewerb stellen. Ganze Heerscharen des Industrieproletariats sind seit der Internationalisierung, sprich: seit der Auslagerung der Produktion aus dem wohlhabenden Westen in Billiglohn-Länder, nutzlos geworden. Sie werden als Staatsbürger, wie der urbane Plebs im alten Rom, nur noch ausgehalten. Perspektive: null. Die ökonomische und soziale Entwurzelung formt neue Massen, die sogenannte Unterschicht. Diese Abgehängten sind die ehemaligen Proletarier aller Länder, die sich nie weltweit vereinigen konnten. Heute ist das schon oft nicht mehr in einem Land möglich. Offiziell haben sie als Staatsbürger alle Rechte, und im Zweifel erhalten sie Almosen mit diesem Status.
Die Organisationen der alten proletarischen Bewegung hat der neue Plebs verkümmert hinter sich gelassen. Der gewerkschaftliche Bildungsapparat braucht heute selbst sozialtechnische Förderprogramme des Staates, um zu überleben. Der Gewerkschaftssekretär steht vor Werktoren und Bürozentralen, durch die die neue Masse nicht mehr geht. Und wenn, dann als geliehene Kraft durch den Hintereingang.
Einige Facharbeiter und akademisch Gebildete sind das letzte organisatorische Rückgrat der alten Bewegung und zugleich das Reservoir für diverse neue sogenannte soziale Bewegungen. Doch selbst diese gebildete und interessierte Mittelschicht ist von prekären Verhältnissen betroffen oder bedroht. Noch aber entscheidet und gestaltet sie mit. Sie ist vielleicht die kreative Menge. Dabei fürchtet sie die neue Unterschicht nicht minder, als dies der neue Geldadel tut. Letzterer, allerdings, hat viel mehr zu verlieren. Deshalb benötigt diese Nouvelle Noblesse neben Sicherheitsorganen noch einen populistischen Schutzgürtel.
Durch ihre pure ökonomische Macht können Teile des neuen Geldadels den politischen Prozess mit neuen Organisationen und Scheindebatten steuern. Zwar binden solche Talkshow-Diskurse - etwa über die angebliche Gefahr des Islamismus oder die mangelnde Integrationsbereitschaft Zugewanderter - die Massen nicht dauerhaft. Sie helfen aber dabei, lärmende Vereine zu schaffen oder aus der populistischen Mottenkiste zu holen. Eine marodierende Journaille liefert die publizistischen Spiele für den Plebs, der dann seine Stimmen entsprechend bei den nächsten Wahlen verteilt oder - schlimmstenfalls - gleich mit körperlicher Gewalt zur Stelle ist.
In einigen Ländern Europas regiert ein neuer populärer Autoritarismus schon heute recht offen, sicherlich in Ungarn, der Ukraine und in Russland sowie in Ansätzen auch in Italien. Die politische Situation im Westen unterscheidet sich von den Zuständen in Belarus oder China immer weniger durch eine lebendige demokratische Kultur, sondern vor allem durch den angeblich stärkeren, weil historisch tradierten Individualismus, der gerne auch in Egoismus umschlägt.
Der Rückzug der Demokratie hinterlässt freie Bahn für vormoderne politische Verhältnisse. Er konfrontiert den Souverän, also die wahlberechtigte Bevölkerung, mit Essenziellem. Zur Debatte stehen letztlich die Menschenrechte. In postdemokratischen Zuständen könnten diese schneller über Bord geworfen werden, als man sich das derzeit vorstellen mag. Dann sind manche eben gleicher als andere. Schon heute existieren bildungspolitische, aber auch finanzielle Barrieren, wozu nicht nur der Besuch der richtigen Schule oder Universität, sondern auch die kleinen Unterschiede in der kostspieligen Fremdsprachenausbildung gehören.
Demokratie ernst zu nehmen heißt, zu kämpfen. Dies gilt vor allem dort, wo das neue Bündnis, bestehend aus Nouvelle Noblesse und Mob, den Staat, also die politische Gesellschaft, übernommen hat. Wer eines aktuellen Beispiels in Mitteleuropa bedarf, der möge nach Ungarn schauen. Kämpfen heißt aktiv sein, lehren, lernen und reden und vor allem Alternativen schaffen. Ja, und auch die alten Organisationen zu nutzen, solange sie die Demokratie stützen.
Wer das nicht will, wem die Kraft dazu fehlt, der muss sich einer neuen Ordnung beugen, die gegründet ist auf den Egoismus der neuen feudalen Klassen. Demokratie stirbt ohne die bewusste Teilhabe aller an einer politischen Gesellschaft. Aber es gilt, sich bewusst zu halten: Der Staat sind wir, und die Wirtschaft gehört uns.
»Die relativ niedrigen Anforderungen, die im Rahmen des liberalen Demokratieverständnisses an das Funktionieren des politischen Systems gestellt werden, führen zu einer Zufriedenheit, die uns blind machen kann für ein neuartiges Phänomen, das ich als ›Postdemokratie‹ bezeichnen möchte. Der Begriff bezeichnet ein Gemeinwesen, in dem zwar nach wie vor Wahlen abgehalten werden, Wahlen, die sogar dazu führen, dass Regierungen ihren Abschied nehmen müssen, in dem allerdings konkurrierende Teams professioneller PR-Experten die öffentliche Debatte während der Wahlkämpfe so stark kontrollieren, dass sie zu einem reinen Spektakel verkommt, bei dem man nur über eine Reihe von Problemen diskutiert, die die Experten zuvor ausgewählt haben. Die Mehrheit der Bürger spielt dabei eine passive, schweigende, ja sogar apathische Rolle, sie reagieren nur auf die Signale, die man ihnen gibt. Im Schatten dieser politischen Inszenierung wird die reale Politik hinter verschlossenen Türen gemacht: von gewählten Regierungen und Eliten, die vor allem die Interessen der Wirtschaft vertreten.«
Aus Colin Crouch: Postdemokratie (2008). Mit dem Untertitel »Postdemokratie II« erschien jüngst Crouchs neues Buch »Das befremdliche Überleben des Neoliberalismus« (beide edition suhrkamp).
René Lenz, geb. 1975 in Friedrichroda,
hat Politikwissenschaft und Kulturwissenschaften in Leipzig und Manchester studiert. Von 2005 bis 2007 war er an der Staatlichen Universität Kasan in der Russischen Föderation im Rahmen des Lektorenprogramms der Robert Bosch Stiftung als Dozent tätig. Seit Herbst 2007 ist er Doktorand an der Staatswissenschaftlichen Fakultät der Universität Erfurt und Mitarbeiter des gewerkschaftsnahen Erwachsenenbildungsträgers »Arbeit und Leben Thüringen«. In seinem Promotionsprojekt untersucht er die Einbindung der Russischen Föderation in den Europäischen Hochschulraum.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.