Irgendwas mit Mitte
Sigmar Gabriel laviert zwischen Schröder-Revision und einem »Stones-Revival«
Erstmals in ihrer 150-jährigen Geschichte hat die SPD einen Vorsitzenden papierfrei gewählt, mit einem sogenannten Televoter. Das Parteitagspräsidium zeigte sich zunächst besorgt, doch scheinen die SPD-Delegierten das mehr-knöpfige Gerät in der Größe eines 1990er Mobiltelefons am Ende richtig bedient zu haben: Nur eine Stimme war ungültig bei Sigmar Gabriels erster Wiederwahl als SPD-Bundeschef, unter dem Strich stehen 91,6 Prozent Zustimmung. Vor zwei Jahren in Dresden hatte Gabriel noch 94,2 Prozent der Stimmen erhalten, 2005 war der kurzzeitige Parteivorsitzende Matthias Platzeck sogar auf 99,7 Prozent gekommen. Sigmar Gabriel bedankte sich trocken für »das große Vertrauen« - und sah doch etwas unglücklich aus.
War das nun, was man einen Dämpfer nennt? Wer Gabriel an die 90 Minuten lang reden hörte und die Reaktionen erlebte, hatte mehr erwartet. Denn tatsächlich kann Gabriel nach der historischen Wahlniederlage von 2009 ja eine gute Entwicklung der Partei herzeigen: Auch wenn die früheren Ergebnisse jenseits der 40 Prozent mittlerweile ausgeschlossen bleiben, ist die SPD in Umfragen von nur noch 23 auf etwa 30 Prozent angewachsen und kann fast auf Augenhöhe mit der Union agieren. Bei den letzten acht Landtagswahlen hat die Partei zwar im einzelnen keine guten Ergebnisse eingefahren, ist aber jedes Mal in die Regierung eingezogen. Das ist wohl mehr, als man vor zwei Jahren erwarten konnte - und dennoch scheint in der Partei ein Unbehagen zu bleiben.
Ganz hat es Gabriel offenbar nicht geschafft, dieses Unbehagen in seiner Rede auszuräumen. Denn einerseits klang, was er sagte, über weite Strecken kämpferisch und nach einer gründlichen Revision der Schröder-Zeit: Gleich am Anfang gab es ein großes Ausrufezeichen hinter dieser Distanzierung: »Nie wieder« nämlich dürfe »eine sozialdemokratische Partei den Wert der Arbeit in Frage stellen, nie wieder darf sie sich so weit von den Gewerkschaften entfernen.«
Fast im gleichen Satz schafft es Gabriel allerdings, es »Gerhard Schröder, Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück« anzurechnen, »dass Deutschland so gut durch die Krise gekommen« sei. Und kurz darauf stellt er beispielreich vor, wie weit dieses Deutschland doch eigentlich davon entfernt sei, ein faires und gerechtes Land zu sein.
Gabriel schiebt die Politik, die die Finanzen entfesselt und die Arbeit entwertet hat, ohne Weiteres auf die »Konservativen und Neoliberalen Europas«, die laut SPD-Chef jetzt »überall in Europa verschleiern, dass ihre langjährige Politik für die Krise verantwortlich« sei. Er bejubelt das Ende der »Epoche des Marktradikalismus« und ruft nicht weniger aus als einen neuen Gesellschaftsvertrag - wer eine Weile zuhört, könnte fast glauben, die SPD komme gerade nach Jahrzehnten aus dem Untergrund. Wäre Gabriel nicht ein so exzellenter Redner, fiele das auf. So indes geht es unter in einem gefälligen Redefluss mit netten Pointen. Die »Mitte«, sagt er zum Beispiel, ist weder ein Ort noch eine Schicht, sondern die Kompetenz, die relevanten Fragen zu stellen.
Irgendwas mit Mitte klingt immer klasse. In der »Station«, der »Eventlocation« an der Grenze zwischen den Berliner Bezirken Kreuzberg und Schöneberg, gibt es dennoch einige, die genauer hinhören. Hilde Mattheis zum Beispiel, Expertin für Pflegepolitik, die neue Frontfrau der SPD-Linken. Sie bedankt sich in der Aussprache nach Gabriels Rede für die »Einladung« zum »Streiten im besten Sinne«. Der strittige Punkt der Rentenpolitik, den die Presse vor dem Parteitag zum entscheidenden Kriterium in der Frage erhoben hatte, ob die »Stones«, also Steinbrück oder Steinmeier, dann noch glaubwürdige Spitzenkandidaten sein könnten, stand erst später an diesem langen Tag der Anträge und Debatten an. Es mag einige in der Partei geben, die diesbezüglich nervös sein müssen.
Sigmar Gabriel aber gehört nicht dazu. »Ich habe nicht verzichtet«, sagt er denn auch zum Thema Spitzenkandidatur. Er wäre mit nahezu allem kompatibel.
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