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Die Schonfrist beenden
Schonbehandlung ausgerechnet für den Klassenletzten - das ist in jeder Schule undenkbar. Und wenn auf dem Zeugnis noch nicht einmal vermerkt werden kann, der Schüler habe sich zumindest bemüht, dann ist die Versetzung ernsthaft gefährdet.
Doch diese Regel scheint beim internationalen Klimaschutz nicht zu gelten. Denn wenn in diesen Tagen Klimaexperten aus aller Welt auf dem UN-Gipfel im südafrikanischen Durban zusammenkommen, kann sich ausgerechnet der Klassenletzte - der Verkehrssektor - weiter zurücklehnen. Obwohl er mittlerweile für 30 Prozent aller Treibhausgas-Emissionen der EU verantwortlich ist und mit einer satten Steigerung von 29 Prozent seit 1990 keinerlei Anstrengungen an den Tag gelegt hat, wird er bisher von vielen Klimaabkommen nicht erfasst. Und das, obwohl andere Sektoren längst bewiesen haben, dass wirtschaftlicher Erfolg und effizienter Klimaschutz Hand in Hand gehen. Bei der Industrie wurden seit 1990 die Treibhausgasemissionen um 34 Prozent gesenkt, bei der Energieerzeugung um 17 Prozent und auch die Haushalte waren mit Einsparungen von 14 Prozent sehr effektiv. Der Verkehr frisst also doppelt und dreifach all das auf, was in anderen Sektoren mit Milliarden unserer Steuergelder erreicht wurde. Deshalb: Ohne eine Änderung der Mobilität werden wir den Klimawandel nicht stoppen!
Dieser ungerechtfertigten Schonbehandlung des Verkehrssektors will die EU nun ein Ende bereiten. Bereits im März dieses Jahres hat die Europäische Kommission mit dem »Weißbuch« ihre Strategie für ein »wettbewerbsorientiertes und ressourcenschonendes Verkehrssystem« vorgelegt. Darin werden mittel- und langfristige Ziele sowie zu deren Erreichung notwendige Maßnahmen skizziert. Übergeordnet wird angestrebt, bis 2050 im Verkehrssektor eine Minderung um 60 Prozent gegenüber 1990 zu erreichen. Das ist zwar noch nicht ausreichend, geht aber in die richtige Richtung.
Der Verkehrsausschuss des Europäischen Parlaments hat diese Kernforderung der Kommission deshalb in seinem Initiativbericht mit großer Mehrheit unterstützt - und zugleich klar gemacht, dass der Nachhilfeunterricht gleich beginnen muss. Denn während das Weißbuch sich bis 2030 mit einer Reduzierung um 20 Prozent im Vergleich zum hohen Niveau von 2008 zufrieden gibt, fordern die Fraktionen im Verkehrsausschuss nun auf grüne Initiative hin eine solche Senkung gegenüber dem allgemein anerkannten Referenzjahr 1990 - und damit gegenüber einem um rund ein Drittel niedrigerem Niveau.
Zugleich bessert der Ausschuss bei der zweiten Schwachstelle des Weißbuches nach: dem Mangel an konkreten Vorschlägen zur Erreichung der Ziele. So fordert der Ausschuss bis 2014 einen Vorschlag der Kommission zur Internalisierung der externen Kosten bei allen Verkehrsträgern. Denn bisher ist ausgerechnet die umweltfreundliche Schiene benachteiligt: Während das Bahnfahren durch die Energiesteuer und auf internationalen Verbindungen durch die Mehrwertsteuer verteuert wird, ist der klimaschädliche Luftverkehr davon befreit. So bekommen die Airlines jedes Jahr 30 Milliarden Euro vom europäischen Steuerzahler geschenkt. Und während jede Lokomotive auf jedem Schienenkilometer eine in der Höhe unbegrenzte Maut bezahlen muss, ist die Straßenmaut eine freiwillige Maßnahme der Mitgliedsstaaten, in der Höhe gedeckelt und gilt meist nur auf Autobahnen für Lkw mit mehr als zwölf Tonnen.
Zudem soll die umweltfreundliche, gesunde und sichere Mobilität gefördert werden. Dazu sollen die Städte Pläne für nachhaltige Mobilität verabschieden, um die Zahl der Radfahrer und Fußgänger zu verdoppeln. Auch im Tourismus setzt der Ausschuss auf das Fahrrad und fordert, die europäischen Radfernwege (»EuroVelo-Routen«), in die Transeuropäischen Verkehrsnetze aufzunehmen.
Nächsten Donnerstag wird das Plenum des Europäischen Parlaments über den Bericht des Verkehrsausschusses abstimmen. Die sich abzeichnende breite Zustimmung macht klar: Die Schonfrist für den Klassenletzten ist beendet!
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