Wunderland mit Problemen

Die Finanzkrise erreichte Island als ersten Staat auf dem alten Kontinent. Inzwischen geht es aufwärts

  • Irina Domurath, Reykjavik
  • Lesedauer: 6 Min.
Drei Jahre, nachdem Island nur knapp dem Staatsbankrott entging, stehen die Zeichen wieder auf Erholung. Die Wirtschaft wächst, der Tourismus boomt, die Arbeitslosenquote ist stabil. In kaum einem anderen Land Europas sind den Banken so straffe Zügel angelegt worden wie in Island. Mit den vorgezogenen Parlamentswahlen im Frühjahr 2009 wurde die über 60 Jahre dauernde konservative Dominanz gebrochen, seither regiert eine Koalition aus Sozialdemokraten und Links-Grüner Bewegung. Doch die Bewohner der Atlantikinsel wollen mehr.
Finanzminister Steingrímur Sigfússon im Gespräch mit »nd«
Finanzminister Steingrímur Sigfússon im Gespräch mit »nd«

Ein 18-stöckiges Bürogebäude gegenüber der Hauptfiliale von Arion, der Nachfolgerbank des einst größten isländischen Geldhauses Kaupthing, gelangte in dem Oscar-gekrönten Dokumentarfilm »Inside Job« zu zweifelhafter Berühmtheit. In den Eröffnungsszenen des Streifens, der die Ursachen der Weltfinanzkrise untersucht, wird das leer stehende Hochhaus zur Metapher der brachliegenden Wirtschaft Islands. Was der Film aus dem Jahr 2010 nicht zeigt, ist, wie sich das Gebäude in den letzten anderthalb Jahren nach und nach gefüllt hat. Einer der wichtigsten Mieter ist eine Anwaltskanzlei, die erfolgreich isländische und ausländische Fusionen und Übernahmeprojekte berät. Im Land der Vulkane und Geysire stehen die Zeichen auf Erholung.

Die Wirtschaft wächst

Neue Unternehmen in den Bereichen Hightech, Computerspiele und Design entstehen. Das isländische Handwerk blüht. Insbesondere traditionelle Wollprodukte, in kleinen Mengen regional hergestellt, erfreuen sich großer Beliebtheit. Islands Haupteinkommensquellen, die Fischerei und der Tourismus, profitieren vom schwachen Wechselkurs der Isländischen Krone. Darüber hinaus erweisen sich die umweltschutzrechtlich kontrovers diskutierten Aluminiumschmelzen als verlässliche wirtschaftliche Stützen. Auch die Arbeitslosenquote liegt stabil bei etwa 8,5 Prozent.

Zum ersten Mal seit 2002 hat Island in den Jahren 2009 und 2010 einen Handelsbilanzüberschuss erreicht. Steingrímur Sigfússon, Finanzminister und Parteivorsitzender der Links-Grünen, erklärt im Interview mit »nd«, er erwarte für dieses Jahr bis zu drei Prozent Wachstum. »Außerdem ist Island im Juni mit zweifach überzeichneten Anleihen an den internationalen Kapitalmarkt zurückgekehrt und hat im August das Programm des Internationalen Währungsfonds erfolgreich abgeschlossen.« In seinem Abschlussbericht lobt der IWF das »eindrucksvolle Konsolidierungsprogramm« Islands: Rekapitalisierung der Banken, Stabilisierung des Wechselkurses, Kürzung der öffentlichen Ausgaben.

Auf die Frage, ob es eine gute Entscheidung war, die Banken in der Krise zu verstaatlichen, antwortet Sigfússon: »Wir hatten keine Wahl. Wir hatten nicht die finanziellen Mittel, den übergroßen Bankensektor zu retten. Und die Verstaatlichung ist auch ein sehr teures Unterfangen für uns.« Im Hinblick auf andere europäische Krisenländer ergänzt er: »Ich möchte nicht in der Position derjenigen stecken, die jetzt vor ähnlichen Entscheidungen stehen wie wir vor drei Jahren. Es gibt keinen einfachen Weg. Ich kann ihnen nur alles Gute wünschen.«

Trotz der deutlichen Fortschritte im Land ist die isländische Bevölkerung nicht zufrieden. Die ersten Parlamentssitzungen nach den Sommerpausen werden seit drei Jahren regelmäßig von Protesten begleitet. Das größte Problem für die isländische Bevölkerung ist die Privatverschuldung. Im Zuge des wirtschaftlichen Aufschwungs kauften viele Isländer Eigentumswohnungen und Häuser, auch, um die hohen Mietzahlungen zu vermeiden. Zur Finanzierung wurden wegen günstigerer Zinsbedingungen oft Kredite in ausländischen Währungen aufgenommen. Im Juni 2010 entschied der oberste Gerichtshof, dass solche Verbraucherkreditverträge wegen mangelnder Transparenz nichtig seien. Ein noch ungelöstes Problem ist jedoch die Frage, inwiefern das Urteil auch auf Zinssätze anwendbar ist: Sollen Verbraucher die höheren Zinsen bezahlen, so als ob sie von Anfang an einen Kredit in Isländischen Kronen aufgenommen hätten? Oder sollen die Banken auf den Zinsansprüchen sitzen bleiben?

Hohe Privatschulden

Viele Privathaushalte sind von Insolvenz bedroht. Obwohl die isländischen Banken ihre Umschuldungsprogramme für Privathaushalte ausgeweitet haben, räumten fast 50 Prozent der verschuldeten Haushalte in einer Umfrage für Statistics Iceland im Jahr 2010 Probleme ein, über die Runden zu kommen. Insgesamt über 20 Prozent sind mit Hypotheken- oder Mietzahlungsverpflichtungen und anderen Kreditzahlungen im Rückstand. Gleichzeitig steigen die Lebenshaltungskosten. Der Verbraucherpreisindex stieg in diesem Jahr auf ein Rekordhoch an.

Der plötzliche Einbruch des Arbeitsmarktes hat Island - bis 2008 herrschte faktisch Vollbeschäftigung - vor immense Probleme gestellt. In der Arbeitslosenstatistik spiegelt sich nicht wider, wie viele Isländer sich nach Verlust des Arbeitsplatzes selbstständig machen, sich an der Universität einschreiben oder das Land verlassen. Miniunternehmen des Kleingewerbes sprießen aus dem Boden. Die Studentenzahlen sind hoch wie nie. Und die Auswanderung lässt die Bevölkerung erstmalig seit Langem schrumpfen. In den letzten zwei Jahren verließen fast sechs Prozent der Bevölkerung das Land.

Auch die Staatsverschuldung stieg im letzten Jahrzehnt auf immer neue Rekordniveaus. Der IWF erwartet für das Jahr 2011 eine Quote von 100 Prozent des Bruttoinlandsproduktes.

Eine weitere Altlast der Krise ist der Icesave-Disput. Bei Icesave handelte es sich um eine isländische Onlinebank, die auch in Großbritannien und den Niederlanden Anleger und Sparer anlockte. Im Zuge der Nationalisierung des Mutterkonzerns Landsbanki im Oktober 2008 garantierte die isländische Regierung die Konten einheimischer Anleger, ließ aber die größere Gruppe, die britischen und niederländischen Kunden, außen vor. Das Parlament verabschiedete zwei Gesetzesvorlagen für die Entschädigung der ausländischen Anleger. Sie fielen jedoch zwei Mal beim Volk durch. Beim zweiten Referendum im April dieses Jahres sanken die Nein-Stimmen jedoch von 93 Prozent auf rund 59 Prozent. Nun wird der Streit wahrscheinlich vor dem Gerichtshof der Europäischen Freihandelsassoziation (EFTA) landen.

Hauptstreitpunkt ist, inwiefern Island auch Konten mit Einlagen über 20 000 Euro garantieren muss, über den europäischen Einlagensicherungsfonds hinaus. Die isländischen Banken hatten ihre Verpflichtungen aus der zugrunde liegenden europäischen Richtlinie erfüllt und ihre Beiträge an den Fonds gezahlt. Dr. Maria Elvira Mendez Pinedo, Professorin für Europarecht an der Universität Islands, meint, dass Island keine weitere Verpflichtung nach europäischem Recht hat: »Die Richtlinie enthält keine Regelungen für den Fall, dass ein systematischer und umfassender Kollaps des Bankensektors ein Land vor außergewöhnliche wirtschaftliche Umstände stellt. Die Richtlinie sieht keine konkrete Staatshaftung vor.« Inzwischen wurde die europäische Einlagensicherung drastisch erhöht.

Politiker vor Gericht

Darüber hinaus betreibt Island Vergangenheitsbewältigung. Geir Haarde, von 2006 bis 2009 Premierminister Islands, muss sich zurzeit vor einem vom Parlament eingerichteten Sondergericht für Verfehlungen im Vorfeld der Krise verantworten. Heutige Oppositionsführer vermuten in dem erstmalig in der Geschichte Islands stattfindenden Sonderprozess allerdings eine politische Kampagne des Parlaments. Zudem stellte das Justizministerium eine spezielle Untersuchungskommission auf, die die Ereignisse, die zum Kollaps des Wirtschaftssystems beitrugen, analysieren und Verantwortliche benennen soll. Anklagen werden in drei bis vier Jahren erwartet.

Auch das Rechtssystem Islands wird überholt. Im Sommer übergab eine »Verfassungskommission« ihre Vorschläge an das Parlament. Die Kommissionsmitglieder wurden in landesweiten Wahlen bestimmt und sind ausschließlich Vertreter der allgemeinen Bevölkerung. Die Hauptthemen der Revision waren Gewaltenteilung, Transparenz und Verantwortung. Nach Jahrzehnten der Vetternwirtschaft soll die Öffentlichkeit nun besser informiert werden und mehr an politischen Entscheidungen teilhaben können. Die Rolle des Parlaments soll gestärkt, Amtszeiten für sollen Politiker gekürzt werden. Die Ernennung von Richtern soll der Exekutiven entzogen werden. Ein weiterer, für viele Isländer wichtiger Themenschwerpunkt ist die Bestimmung, dass die natürlichen Ressourcen des Landes nicht zu Privateigentum gemacht werden dürfen.

»Es bleibt noch viel zu tun«, weiß Finanzminister Sigfússon. Aber er stimmt mit Nobelpreisträger Paul Krugman überein, der im Mai letzten Jahres über das isländische »Nachkrisenwunder« in der »New York Times« schrieb: »Wenn man schon durch eine Krise muss, ist es besser, durch eine wirklich, wirklich schlimme zu gehen.«

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