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Schock-Strategie in Europa

EU-Gipfel verschiebt Machtverhältnisse

  • Alexis Passadakis
  • Lesedauer: 3 Min.
Die Ergebnisse des EU-Gipfels haben gezeigt: Nie war dieser Kontinent weiter von einem »Europäischen Sozialmodell« entfernt.

Die sozialen Bewegungen und die Gewerkschaften in Europa haben alle Hände voll damit zu tun, die teils dramatischen Kürzungsprogramme in den jeweiligen Ländern abzuwehren. Zumindest bisher trotz bisweilen heftiger Proteste und Streiks im Wesentlichen vergeblich. Hinzu kommt, dass seit Beginn der Krise auf der europäischen Ebene neue Mechanismen geschaffen werden, die die Spielräume nationaler Haushaltspolitik einschränken sollen. Bisheriger Höhepunkt war der jüngste Gipfel, bei dem die EU den Beschluss fasste, sich mittels des »Fiskalpakts« als Austeritätsclub neu zu gründen. Genau das ist der »rote Faden« von Merkels Politik: Denn neben der Rettung der Banken geht es der deutschen Regierung darum, die Machtverhältnisse innerhalb der EU und der einzelnen Gesellschaften dauerhaft zu restrukturieren. Das Staatsschuldenthema wird strategisch als »Brechstange« genutzt, um Sozialausgaben und Löhne zu kürzen. Gewerkschaften und Bevölkerungsgruppen, die auf soziale Transfers angewiesen sind, sollen noch stärker an den Rand gedrängt werden. Die globalisierungskritische Autorin Naomi Klein nannte das »Schock-Strategie«.

Die aktuelle Integrationsdynamik in Europa bedeutet daher eine Verschärfung des neoliberalen Projekts zugunsten der Vermögensbesitzer. Bemerkenswert ist, dass diese neue Phase der europäischen Regelsetzung und Institutionenbildung kaum noch über Versprechen von Wohlfahrtseffekten und Arbeitsplätzen legitimiert wird, wie es noch Ende der 1980er Jahre mit dem Binnenmarktprojekt bis hin zum Lissabon-Vertrag üblich war. Aus der Perspektive der europäischen Eliten scheint das inzwischen obsolet. Stattdessen geht es vor allem darum, »die Finanzmärkte zu beruhigen«.

Angesichts dieser Lage stellen oppositionelle rot-grüne Rufe nach »Mehr Europa!« keine Alternative dar - selbst wenn sie von gut gemeinten Demokratisierungsideen begleitet werden. Denn sie können nicht schlüssig erklären, welche sozialen Kräfte eine weitere Souveränitätsübertragung auf die europäische Ebene wirksam in eine tatsächlich soziale Richtung bewegen könnten. Ein europäischer Kooperatismus mit starken Gewerkschaften, wie er den Wohlfahrtsstaat bis in die 1980er Jahre unterfütterte, selbst eine europäische Öffentlichkeit, ist derzeit nicht greifbar. Zwar gab und gibt es Ansätze, europäische soziale Bewegungen zu entwickeln, wie das Europäische Sozialforum, das Attac-Netzwerk oder gewerkschaftliche Koordinierung, aber Erfolge wie die Proteste gegen die Dienstleistungs- oder Hafenarbeiterrichtlinie sind sehr dünn gesät. Dabei mangelt es nicht an gutem Willen, aber es übersteigt deren Ressourcen, wie Banken und Konzernverbände transnationale Politik in der notwendigen Intensität zu betreiben.

Angesichts dessen erscheinen ähnlich wie bei der europäischen »Non«-Kampagne gegen den Lissabon-Vertrag Blockadeversuche auf national-staatlichem Terrain gegen weitere Schritte wie den »Fiskalpakt« aus der Perspektive sozialer Bewegungen in Europa sinnvoll - dies allerdings in Kombination mit Forderungen nach einem Mehr an europäischer Koordination und damit Solidarität: für die Idee eines »europäisch koordinierten Mindestlohns« und einer »europäisch koordinierten Vermögensabgabe«. Damit würde eine solidarische Vorstellung der europäischen Idee unterstrichen, die sich gegen die autoritäre Entwicklung auf der EU-Ebene wehrt, indem sie Handlungsspielräume auf nationalstaatlichem Terrain gewinnt.

Der Autor ist Mitglied im Attac-Koordinierungskreis.

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