Künftig wieder Debatten in der Duma?
Ungeachtet des Streits um die Wahlergebnisse konstituiert sich das russische Parlament
Auf den 450 blau gepolsterten Sitzen für die Abgeordneten werden viele Männer und Frauen Platz nehmen, deren Gesichter in der Öffentlichkeit bisher wenig bekannt sind. Gut ein Drittel der Parlamentarier sind neu im russischen Abgeordnetenhaus, und die meisten neuen Gesichter sind unter den Mandatsträgern der Regierungspartei Einiges Russland (ER). Es handelt sich überwiegend um Vertreter der Gesamtrussischen Volksfront, die Ministerpräsident Wladimir Putin - Parteichef ohne Mitgliedsbuch - im Mai zusammengetrommelt hatte, um die schrumpfenden Zustimmungsraten für seinen Einheitsrussen auszugleichen.
Zwar fuhr die Partei bei den umkämpften Parlamentswahlen am 4. Dezember auch offiziell weniger als 50 Prozent der Stimmen ein, doch kommt sie dank der Tatsache, dass die Stimmen der an der Sieben-Prozent-Hürde gescheiterten Gruppierungen proportional unter den Wahlsiegern aufgeteilt werden, auf 238 Mandate - zwölf mehr als die absolute Mehrheit. Ein Ergebnis, das in westlichen Demokratien als Traum oder auch als Albtraum gilt.
Doch mit der satten Zweidrittelmehrheit, mit der Putins Partei in den vergangenen acht Jahren in der Duma nach Belieben schalten und walten konnte, ist es vorbei. Und damit auch mit der Möglichkeit, Vorlagen aus der Präsidialverwaltung oder der Regierung problemlos und im Fließbandtakt zum Gesetz werden zu lassen. Denn die neuen Stimmenverhältnisse haben auch Konsequenzen für die Besetzung der Führungsposten in den Ausschüssen, wo die Gesetzestexte vorbereitet werden. 14 der insgesamt 29 Leitungsposten gehen in dieser Legislaturperiode an die drei Oppositionsparteien. Über die dafür vorgesehenen Personen haben sich die vier Dumaparteien ungeachtet des Streits um die Wahlergebnisse bereits weitgehend geeinigt. Die Kommunistische Partei (KPRF), die auf 92 Mandate kam und damit in etwa wieder die Stärke des Jahres 2003 erreichte, wird die Vorsitzenden in sechs Ausschüssen stellen, darunter im Komitee für Verteidigung. Die Kommunisten, die ihr Profil als Oppositionspartei dringend schärfen müssen, wie selbst parteiinterne Kritiker mahnen, dürften künftig kräftig austeilen: gegen Putins Hausmacht und die anderen Oppositionsparteien.
Auch der Kampf um den Vorsitz im wichtigen außenpolitischen Ausschuss machte deutlich, mit welcher Heftigkeit in der neuen Duma wieder gestritten wird. Wladimir Shirinowskis ultranationalistische Liberaldemokraten beanspruchten gerade diesen Posten für sich, wahrscheinlich geht der Vorsitz jedoch an den ER-Abgeordneten Alexej Puschkow, einen bekannten Fernsehmoderator.
Der scheidende Parlamentschef Boris Gryslow, der in Personalunion auch ER-Fraktionsvorsitzender war, hatte einst die Volksvertreter angeranzt, das Parlament sei nicht der Ort für Diskussionen. Um die Debatten künftig wenigstens zu steuern, wünscht sich mancher altgediente Abgeordnete auf dem Duma-Chefsessel einen Zuchtmeister wie weiland Ruslan Chasbulatow, den Vorsitzenden des Obersten Sowjets, den Boris Jelzin 1993 mit Panzern und schwerer Artillerie auflösen ließ. Der Mann, den die Einheitsrussen als Parlamentspräsidenten nominierten und heute auch küren dürften, ist jedoch der genaue Gegenentwurf zu Chasbulatow: Sergej Naryschkin, 57 Jahre alt, war bisher Chef des Präsidialamtes - ein Mann, der nicht als Volkstribun und rhetorisches Talent auffiel, sondern eher diskret im Hintergrund die Fäden zog.
Naryschkin, dessen Vorfahren zum Hochadel zählten, stammt wie Putin aus Leningrad, dem heutigen St. Petersburg. Beide lernten sich schon beim gemeinsamen Studium an der KGB-Hochschule kennen und verloren einander seither nicht mehr aus den Augen. Als Putin Anfang der 90er Jahre Vizebürgermeister der Newastadt war, gehörte auch Naryschkin zu seinem Team und zum engeren Freundeskreis. Und kaum, dass Putin 2004 als Präsident wiedergewählt wurde, holte er Naryschkin nach Moskau und machte ihn zum Leiter des Apparats der Regierung. Das Amt setzt absolutes Vertrauen in dessen Inhaber voraus: Der entscheidet, welche Vorlagen des Regierungschefs auf dem Tisch des Präsidenten landen und damit bei der letzten Instanz. Naryschkin soll den Job sehr gut gemacht haben. Ob er als Dumapräsident. Putins Vertrauen in ähnlicher Weise rechtfertigt, wird man sehen.
Als Alterspräsident wird übrigens der 87-jährige Kriegsveteran Wladimir Dolgich die erste Dumasitzung eröffnen. Der Abgeordnete für Einiges Russland war in den 80er Jahren Sekretär des ZK und Kandidat des Politbüros der KPdSU.
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