Angst vorm nächsten Tag
Die alleinerziehende Silke P. kommt mit einem Minijob und Hartz IV kaum über die Runden
Silke hat eigentlich wenig Zeit. Sie muss Koffer packen, zum Zahnarzt wegen der Zahnspange für ihren Sohn. Am Alexanderplatz will sie noch ein paar Kleinigkeiten für die Reise kaufen und schließlich muss sie ins Job-Center, um sich abzumelden. Sie ist zwar eine freie Bürgerin, aber so frei nun auch wieder nicht, um einfach drei Wochen wegzufahren. »Ich geh arbeiten und steh trotzdem unter Kontrolle. Das ist der Anfang. Irgendwann kriegen wir alle `n Chip unter die Haut. Dann ist die Kontrolle total.«
Ich treffe Silke P. am Job-Center. 10.15 Uhr ist der Termin mit dem Fallmanager. Es wird ein kurzes Gespräch über die Schwierigkeiten, als Alleinerziehende einen Job zu bekommen, bei dem sie abends ihr Kind nicht allein lassen muss. Schwer zu finden in der Friseurbranche. Vielleicht könne sie sich zur Ausbilderin qualifizieren ...? »Ja«, meint der nette Center-Mann, »dann machen Sie mal.« Aber vor allem solle sie nicht vergessen, sich nach der Reise umgehend zurückzumelden. Kann gut sein, dass er kurz danach anruft. Er macht einen Vermerk im Computer. Dann wird sie gewissermaßen freigeschaltet.
Fünf Jahre ohne Urlaubsreise
Wir gehen in ein Café am Kollwitzplatz in Prenzlauer Berg. Andere Menschen, ein anderer Lebensstil. In keinem Berliner Stadtteil sind so wenig Leute von staatlicher Unterstützung abhängig wie hier. Obwohl Silke P. hier wohnt, ist es nicht ihre Welt. Prenzlauer Berg - ein Label für Gutgeh- und Wohlfühloptik. Der Wandel des sozialen Milieus ging rasend schnell. Von 1995 bis 2000 wechselte die Hälfte der Bevölkerung. Massive Verdrängung durch Wertsteigerung und neue soziokulturelle Biotope, Lifestyle und entsprechende Preise. Für Immobilien schon mal 3300 Euro pro Quadratmeter. Hohe Mieten sowieso. Schicke Läden. Für Spielzeug, für Babymode, für die Mütter über 30. Kinderyoga, Biomarkt, Blumen, Wein, Käse. Keine Billigketten.
»Nein, hier kaufe ich nicht ein«, sagt Silke. So fein kann die Grenze zwischen oben und unten auch aussehen. »Das Geld für oben habe ich nicht.« Mit ihr ist kein Geschäft zu machen. Sie muss rechnen. Ganz genau und auf den Cent. Auch bei den Einkäufen für die Reise. Ein oder zwei T-Shirts? Mal sehen, preiswert müssen sie sein. Sie freut sich jedenfalls.
Ihre letzte Reise ist schon mindestens fünf Jahre her. Da ist sie mit ihrem Sohn richtig in Urlaub gefahren. Jetzt machen beide eine Mutter-Kind-Kur. Die haben sie nötig. Urlaub kann sie sich nicht mehr leisten. Silke lächelt freundlich. Sie klagt nicht. Es ist eine sachliche Feststellung der Fakten ihres Lebens. Sie spricht leise und unaufgeregt und stellt nüchtern fest: »Ja, ich bin arm.« In einem Bericht hat sie gelesen, dass als armutsgefährdet gilt, wer einschließlich staatlicher Leistungen weniger als 929 Euro zur Verfügung hat.
Besonders gefährdet - zu 37,5 Prozent - sind Alleinerziehende, so wie Silke P. Und das Risiko steigt. Immer mehr Menschen schaffen es immer weniger, ihre Lage aus eigener Kraft zu verbessern. Die Zementierung sozialer Ungleichheit hat ein Pendant: Die Reichen bleiben reich, oder - Überraschung! - werden noch reicher. Das Fazit des Berichts: Einmal arm, immer arm. Silke nickt. »Das stimmt. Man kommt da nicht mehr raus.« Obwohl sie etwas über der Armutsgrenze liegt. Obwohl sie arbeitet. Obwohl sie sich bemüht. Sie sieht es im Job-Center: Der Rest fällt durch den Rost.
Immer mehr Menschen haben Sozialphobien
Silke P. hat einen Job als Friseurin. Minijob. Gottseidank mit einer Arbeitszeit bis 16 Uhr. Ein Job bis 20 oder 22 Uhr ginge mit dem Kind nicht. Wer soll ihren Sohn betreuen? Der Vater ist gestorben. Ihre Mutter lebt im Erzgebirge. Eine Tagesmutter kann sie nicht bezahlen. Nein, sie hat nicht wirklich eine Wahl. Also Minijob mit 400 Euro. Das ist ihr Einkommen, plus Kindergeld und Halbwaisenrente für ihren zehnjährigen Sohn.
Sie würde lieber von ihrer Arbeit leben, doch genau dazu reicht es eben nicht. Deshalb erhält sie ergänzend Hartz-IV-Leistungen und gehört damit zu den rund 1,4 Millionen Aufstockern. Alles, was sie hat, wird penibel auf- und gegengerechnet. Man kann sicher sein, dass im Job-Center genau drauf geachtet wird, dass niemand zu viel bekommt. Dafür gibt es gesetzliche Regelungen. »Wenn meine Mutter ihrem Enkel 100 Euro schenken würde für Ferien oder Hobby, das müsste ich angeben und es würde vom ALG 2 abgezogen.« Ist das so? »Ja. Das nennt sich Zufluss. Den muss ich nutzen, also verbrauchen.«
Irgendwann ist alles verbraucht. Was dann? »Es darf nichts passieren. Keine kaputte Waschmaschine, keine nasse Jahreszeit, keine neuen Schuhe. Ganz schlimm sind Ferien. Ich kann ja noch verzichten. Aber wie soll das ein Kind verstehen?« Trotz des Berlin-Passes und zehn Euro staatlichem Festzuschuss für die Mitgliedschaft zum Beispiel in einem Sportverein bringen die Ferien Silke finanziell ins Minus. Denn auch Sparen hat Grenzen. Trotzdem versucht sie es.
»Ich kaufe keine Klamotten für mich, setze mich nicht ins Café, so wie wir jetzt. Das gibt es alles nicht.« Auch nicht Kino oder Theater, jedenfalls nur selten. Die größte Angst hat Silke vor Obdachlosigkeit und davor, dass ihr Sohn mit dem Stigma Armut aufwächst. Mit der Angst der Armen vor dem nächsten Tag. Silke P. erzählt von ihrem Alltag. Es ist der Alltag von Millionen Menschen in Deutschland.
Schon lange denkt Silke über diese Verhältnisse nach. Liest, recherchiert im Internet, diskutiert mit Freunden über die Verwahrlosung der Gesellschaft. Sie sieht die Leute, die nicht mehr können, sie kennt ihre eigenen Ängste und Anstrengungen. Von ihrer Schwester, die in einer Tagesklinik arbeitet, weiß sie, dass Sozialphobien zunehmen. »Zu Weihnachten ist die Klinik immer voll. Die Leute sind verzweifelt.« Kein Wunder, findet sie. »Ein menschenfeindliches System ist das. Zerstörerisch. Und dazu eine große Propagandamaschine, die so gut funktioniert, dass der Hartz-IV-Empfänger selbst denkt, er ist nichts wert. Und die Lügen glaubt.« Dass er ein Parasit ist. Dass soziale Gerechtigkeit nicht funktioniert. Dass die Welt nicht veränderbar ist. Dass wir alle in einem Boot sitzen und stillhalten müssen.
Keine Aussicht auf existenzsichernde Arbeit
Nein, sagt Silke, alles Zwecklügen, um Menschen klein zu halten, um sie gegeneinander auszuspielen, um sie unter Kontrolle zu halten - um Profit und Macht zu sichern. Denn, nur als Beispiel, mit den Ackermännern dieser Welt sitze sie nun überhaupt nicht in einem Boot. Dafür sorgen die schon. Sie hat auch nichts zu verlieren, wenn die Börse kracht. Und soziale Gerechtigkeit sollte oberstes Politikziel sein. Klingt wie eine Parole, ist aber eine Grundsehnsucht der Menschen. Wenn sie zu lange fehlt, wird sie zu einem Kampfziel.
Kritik und Empörung in ruhigem Ton und mit sanftem Blick. Lächeln über mein Erstaunen. »Eigentlich wollte ich Bibliothekarin werden.« Doch der Vater sagte, Handwerk habe goldenen Boden. Nach der zehnten Klasse machte sie eine Friseurausbildung. »Ein Traumberuf im Osten. Mein erstes Gehalt waren 700 oder 800 Mark. Das war nicht schlecht. Ich war in einem Salon in Chemnitz. Arbeit in zwei Schichten von 6 bis 22 Uhr, 10 bis 20 Kolleginnen.« Und für Frauen mit Kindern gab es besondere Regelungen. Arbeitsbedingungen, die sie sich heute wünschen würde.
Zu ihren Erinnerungen gehört auch der Ausreiseantrag, den sie 1988 stellt, um ihrem damaligen Freund in den Westen zu folgen. Am 22. November 1989 reiste sie offiziell nach Berlin-Kreuzberg aus. Unbegrenzte Freiheit und ein Kulturschock. Arbeitslos, dann Zimmermädchen, wieder Friseurin. Jetzt Aufstockerin. Und keine echte Aussicht auf Arbeit, von der sie und ihr Sohn ohne Sorgen leben können. Eine Erfahrung, die Silke für ihr Leben gern machen würde.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft
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