- Kultur
- Zum Tod von Rolf Hochut
Von der Schwierigkeit, ein Deutscher zu sein
Rolf Hochhuth im Interview 2011 über Nazis und den deutschen »Tell«, Busch und Bismarck, Gorbatschow und schlaue Frauen
Er wohnte im Herzen Berlins, wo bedrückende und beglückende, beschämende und beflügelnde deutsche Geschichte so präsent ist wie an keinem anderen Ort, wenige Schritte vom Holocaust-Mahnmal und vom Brandenburger Tor entfernt. Mit Rolf Hochhuth sprach 2011 Karlen Vesper.
Herr Hochhuth, was sagen Sie zur neonazistischen Mordserie, über 60 Jahre nach Hitler?
Hochhuth: Der Nazi ist ein Krimineller, zu allen Zeiten, in allen Zonen. Das sind Leute, die lebenslänglich hinter Gitter gehören. Vor allem aber erschüttert mich die Tatsache, dass offenbar hochgestellte Beamte der BRD sich mit Schuften zusammengetan haben und als Entschuldigung vorbringen, sie müssten in diese Szene hineinkommen, um sie zu beobachten. Das wäre so, als hätte in den 20er Jahren ein Staatsschützer dem hannoverschen Jünglingsmörder Haarmann beim Morden geholfen, mit der Begründung, er wollte Genaueres über dessen Vorgehen erfahren. Ich empfinde das Verhalten des Verfassungsschutzes als vollkommen unentschuldbar.
Das ist auch bereits kriminell?
Die BRD hat sich hier wieder einmal als das entlarvt, als das sie angetreten ist. Adenauer, der immerhin ein ehrlicher, wenn auch ganz zynischer Mann war, hat mal auf die Frage, warum er so viele alte Nazis in seinen Diensten habe, vom Vorzimmer bis hinauf zum Staatssekretär, geantwortet: »Ich kann dat Schmutzwasser nich weg schütten, bevor ich frisches habe.« Der Staatssekretär im Bundeskanzleramt ist der höchstgestellte Beamte im Land - Globke war Kommentator der mörderischen Nürnberger Judengesetze.
Ist unsere Demokratie nicht wehrhaft genug, das Manko der Weimarer Republik?
Unsere Demokratie ist sehr wehrhaft gegen Linke und andere Menschen, die ihr nicht passen.
Sie haben viele Jahre um ein Denkmal für den Hitler-Attentäter Georg Elser in Berlin gerungen ...
Ja, das war meine Initiative. Am 8. November dieses Jahres war es endlich soweit. Das Denkzeichen von Ulrich Klages in der Wilhelmstraße erfüllt die Definition von Schinkel: »Kunst ist, was neu ist. Was nicht neu - ist gar nicht Kunst.« Dabei war Schinkels Neogotik eigentlich nicht neu. Die Neue Wache Unter den Linden ist zwar ganz wunderbar, sieht aber aus wie eine Transplantation der Akropolis aus Athen nach Berlin.
Weshalb die Hauptstadt auch »Spree-Athen« heißt.
Schlüter hat als Baumeister Neues geschaffen. Auch Langhans, der als Architekt nicht gebührend geschätzt wird. Sein Brandenburger Tor mit Schadows Quadriga ist unglaublich eindrucksvoll. Es ist 220 Jahre alt. Ich habe dazu ein Sonett in der »BZ« veröffentlicht.
Auch Napoleon fand des Tor toll und hat die Quadriga geraubt.
Blücher hat sie 1814 aus Paris zurückgeholt.
Zurück zu Elser. Wenn hierzulande mehr an den Widerstand erinnert würde, statt bis zur Betäubung an Hitler, Göring, Goebbels und Konsorten, stünde es vielleicht besser um das Miteinander?
Ich weiß nicht, was sich diese Nation gedacht hat, einen Mann wie Georg Elser so lange zu verschweigen. Warum dieses Nichtverhältnis der Deutschen zu ihrem »Wilhelm Tell«? Elser kam weder in der großen »Deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts« von Golo Mann noch in der Hitler-Biografie von Joachim Fest vor. Er wurde im »roten Meyer« der DDR unterschlagen wie im Stuttgarter »schwarzen Meyer«. Er fehlte im 25-bändigen Brockhaus. Bis 1996 gab es Elser nicht. »Dies Volk liebt zwar die Freiheit - doch nicht die, die sich für sie geopfert«, schrieb ich in meinem Gedicht für Elser vor 40 Jahren. Immerhin hat die BRD vor zehn Jahren eine Sonderbriefmarke herausgebracht.
Das Elser-Denkmal in Berlin ist, so finde ich, eine wichtige Gegenkraft zu einer schändlichen Pilgerstätte in der Nähe. Touristen aus aller Welt werden an dem Ort ausgesetzt, wo heute nichts mehr zu sehen ist außer - unter einer Glasplatte - der Grundriss des von Stalin zugeschütteten »Führer«-Bunkers. So ekelhaft ist die Nachwelt, dass sie mehr Interesse an den letzten Tagen des Massenmörders als an dessen Opfer zeigt.
Welche Erinnerungen haben Sie an die NS-Zeit?
Am 1. April 1945 wurde ich 14, am 3. April befreiten uns die Amerikaner. Atmosphärisch hat man in diesem Alter einiges mitbekommen. Meine Mutter sagte schon vor '42: »Nun machen sie's mit Gas!« Wer wissen wollte, wusste: Die Juden werden nicht in den Osten deportiert, um sie vor britischen Bombenangriffen zu schützen. Ich erinnere mich auch an das schöne Warenhaus am Eschweger Marktplatz, das dem Großvater eines Schulkameraden gehörte und das nach der Pogromnacht 1938 dessen Buchhalter für einen Appel und ein Ei, wie man sagte, bekam. Seiner Familie gehört es noch heute.
Wer ist auf dem Gemälde in Ihrem Arbeitszimmer der junge Mann mit der Stuka im Hintergrund?
Mein Vetter, der am 4. Mai 1945 noch seine Eltern in der amerikanisch besetzten Zone aus Stettin angerufen hatte, dann kam kein Lebenszeichen mehr von ihm. Ich habe dessen Bruder, ein Sonntagskind, einer von Dreien aus seiner Schulklasse, die den Krieg überlebten, gefragt: »Horst saß doch allein im Flugzeug. Warum ist er nicht über die Ostsee abgehauen und in Schweden notgelandet?« Da sagte der Bruder: »So dachte man nicht.«
Jahrgang und Geografie sind Schicksal. Mein Großvater hatte einen Kutscher, ein sehr lieber Kerl; er trug den stattlichen Namen Richard Wagner. 1933 kam er zu meinem Großvater und sagte: »Chef, kann ich am Sonntag ein Pferd kriegen?« Mein Großvater sagte: »Natürlich. Aber wofür?« Da antwortete er: »Ich bin jetzt im Reitersturm.« Mein Großvater lachte und sagte: »Wagner, sie sind doch der strammste Kommunist der Stadt.« - »Ja, aber das ist jetzt vorbei.« Die Nazis waren sehr schlau. Jetzt konnte dieser Kutscher zwischen Herrn Rechtsanwalt Dr. Soundso und dem Chefarzt des Kreiskrankenhauses am Sonntagmorgen durch die Stadt reiten. 1945 ist er wieder in die KPD eingetreten und war ein liebenswürdiger Funktionär. Auch die Nachkriegsparteien waren schlau, schauten nicht genau hin.
Können Sie verzeihen, wenn jemand sein Fähnchen nach dem Wind hängt?
Ich finde es verzeihlich beim »kleinen Mann«, der arbeitslos und propagandistisch vollkommen verblödet ist. Die Deutschen haben geglaubt, der »Führer« baut jetzt Autobahnen und schafft Arbeitsplätze. Sie wussten nicht, dass in Schweden, Italien und anderen Ländern zu dieser Zeit auch Autobahnen gebaut wurden und die Arbeitslosigkeit ebenfalls zurückging. Woher hätten sie es wissen sollen? Es gab keine Auslandspresse, noch kein Fernsehen, und die deutsche Presse war gleichgeschaltet. Gustav Heinemann, ein Verwandter meiner ersten Frau, deren Mutter als Mitglied der Schulze-Boysen-Gruppe 1943 enthauptet wurde, sagte: »Wenn du mit dem Zeigefinger auf jemanden weist, denke daran, dass drei Finger auf dich zurückweisen.«
Mit dem »Stellvertreter« haben Sie schon 1963 das Schweigen des Vatikans zum Holocaust angeklagt - drei Jahrzehnte, bevor die Historiker dazu publizierten.
Ich hatte den »Stellvertreter« schon 1961 fertig. Das Stück lag rum wie ein alter Kalender, über zwei Jahre hat sich keiner rangetraut. Bis Erwin Piscator aus der Emigration kam. Ihm allein und dem Chef des »Leserings« Karl Ludwig Leonhardt verdanke ich, dass ich als Autor zur Welt kam.
Ich bin von Haus aus evangelisch. Das ist ein sehr großer Schönheitsfehler. Den »Stellvertreter« hätte eigentlich ein Katholik schreiben müssen. Aber die Katholiken haben sich die doch höchst naheliegende Frage, was der Stellvertreter Gottes auf Erden zum Mord an den Juden gesagt hat, gar nicht gestellt.
Sie waren drei Monate in Rom, um das Stück zu schreiben.
Diese Auszeit hat mir Reinhard Mohn vom Bertelsmann Verlag finanziert. Ich arbeitete damals dort als Lektor und habe eine Wilhelm-Busch-Ausgabe gemacht, von der in sechs Wochen eine Million Exemplare verkauft wurden. Ich habe die damals noch lebenden 14 Neffen und Nichten von Busch besucht und einiges im Privatbesitz entdeckt. Übrigens, sehen Sie diese beiden kleinen Skizzen an der Wand dort drüben? Die sind original Busch. Er war sehr sparsam, hat Vorder- und Rückseite bemalt.
Nach dem Riesenerfolg der Ausgabe sagte mein Vater: »Ich finde, jetzt könntest du schon mal diesen Herrn Mohn fragen, ob er dir zwei Pfennig gibt pro Exemplar.« Für 20 000 Mark hätte ich ein stattliches Grundstück kaufen können. Doch Mohn sagte: »Herr Hochhuth, das kann ich nicht machen, das ist ja schon Beteiligung am Gewinn. Das geht nicht. Aber fahren Sie doch drei Monate weg, ich zahle Ihnen die.«
Wie erklären Sie sich den Erfolg dieser Busch-Ausgabe?
Busch war einzigartig in der Personalunion von Dichter und Zeichner. Und er war verwegen, man denke nur an »Herr und Frau Knopp«, gemeinsam im Bett. Ein Mann wie Fontane, Vater von zwei unehelichen Kindern, monierte: »Storms Lyrik ist zu erotisch.« Die waren damals alle verklemmt. Im sittlich recht terroristischen Biedermeier sind die getrennten Ehebetten erfunden worden.
In Ihrem Flur hängt eine Bismarck-Zeichnung. Ich weiß, Sie sind ein Fan des »Eisernen Kanzlers«. Was sagen Sie zum französischen Vorwurf, Frau Merkel betreibe Bismarcksche Politik?
Zunächst: Dieses Bild ist das einzige, auf dem Bismarck lacht. Es stammt vom damals sehr berühmten Anton von Werner, der auch die Proklamation des deutschen Kaiserreiches im Versailler Schloss 1871 gemalt hat. Er hat auch den »Scheffels«, das Studentenliederbuch, lustig illustriert und ein erstes Exemplar Bismarck geschenkt. Bei der Gelegenheit hat Werner ihn gezeichnet. Er starb 1915 und war später verpönt als Kaisermaler.
Doch zu Ihrer Frage: Bismarck schätze ich, weil er als Erster eine Sozialgesetzgebung eingeführt hat, um die uns andere Länder beneideten. Zweitens: Frau Merkel hat eine Etage über mir gewohnt, ich kenne sie ein bisschen. Sie war gegen den Euro und hat sich dann der Brüsseler Disziplin gebeugt. Sie ist geschickt. Alles Unangenehme überträgt sie ihrem Koalitionspartner. Ernst Freiherr von Weizsäcker, der Vater des ehemaligen Bundespräsidenten, schrieb in seinen Memoiren: »Die Frauen sind, wenn nicht generell, so doch in der natürlichen Diplomatie das begabtere Geschlecht.« Ich bin überzeugt, dass Frau Merkel noch 20 Jahre Kanzlerin bleibt.
Sind Sie der Ansicht, Deutschland bevormundet Europa?
Im Frühjahr war ich in Riga und Moskau und an meinem Geburtstag im einstigen Stalingrad, heute Wolgograd. Gorbatschow ist in Russland vollkommen in Verruf geraten. Dabei ist er handfest von Kohl betrogen worden. Gorbatschow vertraute Kohl, der ihm das Ehrenwort gab, dass die NATO keinen Meter nach Osten vorrückt. Sie ist tausend Kilometer nach Osten vorgerückt. Wir Deutschen haben die Russen betrogen. Ich habe keine sehr gute Meinung von den Deutschen - erstens, weil ich selber einer bin, zweitens wegen der Geschichte und drittens wegen der Gegenwart. Das heutige Deutschland ist mir kulturfremder als das monarchische.
Wie das?
Die Beziehungen der Monarchie zu Kunst und Kultur waren ehrwürdig. Und heute? Schauen Sie sich doch die grauenvolle Architektur des Potsdamer Platzes an. Keine Spur von Kunst, was sogar ungesetzlich ist, denn schon Adenauer verlangte, eine gewisse Summe an öffentlichen Gebäuden sei für Kunst auszugeben. Sogar Ulbricht hat in Kunst am Bau investiert.
Vermute ich angesichts der Kunstbücher auf Ihrem Tisch richtig, dass Ihr nächstes Werk sich diesem Metier zuwendet?
Ich mache mit meiner polnischen Übersetzerin einen Bildband: »200 Akte aus fünf Kontinenten«. Und ich schreibe ein Stück über drei Frauen: Coco Chanel, Marlene Dietrich und Jackie Kennedy.
Das Trio verspricht Spannung. Vielen Dank für das Gespräch.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.