Ängste statt Aufstieg gefördert
Kein Grund zum Feiern: Hartz IV wird sechs Jahre alt
Um die Logik hinter der größten arbeitsmarktpolitischen Reform seit dem Zweiten Weltkrieg zu verstehen, muss man den Blick auf Vorgänge richten, welche ihren Lauf nahmen, als öffentlich noch kaum ein Politiker über das Projekt sprechen wollte. Der damalige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) hatte im Jahr 2002 in der Wochenzeitung »Die Zeit« indirekt verraten, welchen Zweck die von ihm initiierte »Agenda 2010« haben würde. Zu den damals laufenden Tarifverhandlungen in der Zeitarbeitsbranche hatte der Genosse der Bosse erklärt, dass das Ergebnis deutlich unter »den normalen branchenüblichen Tarifverträgen« liegen müsse. Übersetzt hieß das: Ein Leiharbeiter sollte für die gleiche Arbeit weniger Lohn als ein Beschäftigter in der Stammbelegschaft des Unternehmens erhalten. Kein Wunder, dass sich seit der Einführung von Hartz IV die Beschäftigungszahl in der Leiharbeit auf mehr als 850 000 Menschen verdoppelt hat.
Beschäftigte in dieser Branche sind es nun aber, welche besonders unter Hartz IV zu leiden haben, wie aus einem aktuellen Bericht der Bundesagentur für Arbeit hervorgeht. Verliert ein Arbeitnehmer seinen Job, ist dieser immer häufiger sofort auf Arbeitslosengeld II, also Hartz IV, angewiesen. Mittlerweile ist jeder vierte Beschäftigte, welcher seine Anstellung verliert, davon betroffen. In einem Drittel aller Fälle handelt es sich dabei um frühere Beschäftige in der Leih- und Zeitarbeit.
Was Sozialverbände und Linkspartei schon vor der Einführung des Herzstückes der »Agenda 2010« beklagten, ist bittere Realität geworden. Die vom früheren VW-Manager Peter Hartz maßgeblich entwickelte Reform hat laut Kritikern ganz wesentlich zu einer Senkung der Realeinkommen geführt. Statistische Belege für diese Behauptung gibt es einige, zuletzt auch in einer Studie des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) vom Juli dieses Jahres. Laut DIW haben Geringverdiener in den letzten zehn Jahren 16 bis 22 Prozent an Einkommen verloren. Grund dafür ist wieder Hartz IV, denn mit dessen Einführung wurde die Zumutbarkeitsschwelle für die Aufnahme einer Tätigkeit praktisch aufgehoben.
Dies führt konsequenterweise zu einer weiteren Senkung der Gehälter. Wer jede zumutbare Arbeit annehmen muss, nimmt zwangsweise auch niedrigere Löhne in Kauf. Wesentliches Element der Agenda-Logik ist also mitnichten das einst gepriesene »Fördern« von beruflichen Perspektiven, sondern das Schüren der Angst vor dem sozialen Abstieg.
Dass der Hartz-IV-Regelsatz nicht menschenwürdig ist, hatte das Bundesverfassungsgericht schon im Februar 2010 festgestellt und die Bundesregierung zu einer transparenten Neuberechnung verdonnert.
Schwarz-Gelb reagierte spät und brachte erst Ende Februar 2011 eine Erhöhung des Regelsatzes in zwei Stufen auf den Weg. Ganze fünf Euro pro Monat im ersten Halbjahr, weitere zehn Euro folgen nun zum Jahreswechsel, was mehr mit der erhöhten Inflation als mit dem guten Willen der Regierung zu tun hat. Wirklich transparenter ist das Hartz-IV-System nicht geworden, heißt es in zwei Studien der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-Stiftung.
Stattdessen dürfen Betroffene für ihre Kinder seit diesem Jahr Leistungen aus dem »Bildungspaket« von Arbeitsministerin Ursula von der Leyen (CDU) beantragen. Dieses soll den Sprösslingen mehr »soziale Teilhabe« ermöglichen, wofür vom Bund im Monat je Kind zehn Euro zur Verfügung gestellt werden.
Der Kabarettist Urban Priol fand für diesen letztendlich wirkungslosen Almosen die treffende Worte. So witzelte er über ein Kind, welches mit dem Bildungsgutschein viel zu teuren Gitarrenunterricht nehmen will. Die zynische Antwort des Musiklehrers: »Nimm die Saite und häng dich auf.«
Hartz IV
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