Bewegendes Vorbild
Die teilweise Abschaffung der Residenzpflicht für Asylbewerber in Brandenburg hat sich bewährt
Es gibt viele Ausreden dafür, die Bewegungsfreiheit von Flüchtlingen einzuschränken, sie nur selten aus einem Landkreis herauszulassen. Als Brandenburg am 29. Juli 2010 die Residenzpflicht lockerte und Asylbewerbern erlaubte, sich im gesamten Bundesland frei zu bewegen, ertönten die altbekannten Unkenrufe der Gegner der Bewegungsfreiheit. Die Flüchtlinge könnten leichter untertauchen, mehr Straftaten begehen und ihre Abschiebung verzögern, hieß es. Nichts davon ist eingetroffen. Polizei und Justiz »sehen keine oder kaum Probleme«, erklärte Innenminister Dietmar Woidke (SPD) gestern. Das habe eine Abfrage ergeben.
Im Einzelfall sei mal jemand länger weggeblieben als gedacht, zu den wichtigen Terminen in den Ausländerbehörden seien allerdings alle erschienen, bemerkte Abteilungsleiterin Patricia Chop-Sudgen. Dass die Reisefreiheit für die Flüchtlinge zumindest innerhalb des Bundeslandes so reibungslos funktioniert, sei einer der Gründe dafür, warum Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein, Nordrhein-Westfalen, Niedersachsen, Baden-Württemberg und Mecklenburg-Vorpommern nachzogen, erzählte Woidke. Vorher gab es das nur in den Stadtstaaten Berlin, Hamburg und Bremen sowie im kleinen Saarland.
Früher seien die ohnehin schon strengen Reisebeschränkungen in Brandenburg eng ausgelegt worden, erinnerte Woidke. Wenn Asylbewerber Freunde oder Verwandte besuchen wollten, die außerhalb des Landkreises wohnten, so mussten sie vor jeder Reise eine Genehmigung der Ausländerbehörde einholen, die oft auch versagt wurde. Das sei eine bürokratische Erschwernis gewesen, bedauerte der Innenminister. Die Pflege von Kontakten sei dadurch erschwert oder schier unmöglich gemacht worden. Dabei müssten doch auch Flüchtlinge ein Recht auf ein menschenwürdiges Leben haben, betonte Woidke.
»Die Aufhebung der Residenzpflicht war für die Flüchtlinge etwas Tolles«, sagte die Landtagsabgeordnete Bettina Fortunato (LINKE). »Endlich konnten sie zu Verwandten reisen und sich anderswo nach einer Arbeit umsehen.« Viele hätten das freilich vorher schon heimlich getan. Doch dies sei gefährlich gewesen. Es handelte sich um eine Ordnungswidrigkeit. Wer mehrmals erwischt wurde, galt als Straftäter. Es drohte eine Geldstrafe oder sogar Gefängnis. Bei aller Freude über die Verbesserungen vergisst Fortunato nicht, dass es noch immer Beschränkungen gibt. »Es bleibt noch viel zu tun«, sagte sie. Ärgerlich sei, dass Polizisten immer noch kontrollieren, wenn sie in der S-Bahn von Strausberg nach Berlin Menschen antreffen, die sie für Ausländer halten.
Die Residenzpflicht zu lockern und am besten gänzlich abzuschaffen, das war ein Wunsch der Linkspartei. Sie möchte, dass sich Flüchtlinge in ganz Deutschland frei bewegen dürfen. Doch dieser Vorstoß fand im Bundesrat »leider keine Mehrheit«, bedauerte Innenminister Woidke gestern.
Immerhin erreichte die rot-rote Landesregierung durch eine Vereinbarung mit dem Berliner Senat, dass die meisten brandenburgischen Flüchtlinge eine Dauererlaubnis für den Aufenthalt auch in der Bundeshauptstadt erhalten können. Es gibt aber Ausschlusskriterien. Wer mit Drogen dealte, darf beispielsweise nicht nach Berlin. Dies wäre vielleicht noch einzusehen. Schlimmer ist, dass eine Reise nach Berlin auch solchen Flüchtlingen verwehrt wird, die nicht genau sagen, woher sie eigentlich kommen, damit sie nicht dorthin abgeschoben werden.
»Wer seine Heimat und seine Familie verlässt, der tut das nicht aus Jux und Dollerei«, versicherte die Abgeordnete Fortunato. Den Menschen müsse in der Regel Schlimmes geschehen sein. Die Rückkehr wäre womöglich lebensgefährlich. Da sei es nur verständlich, wenn sie Angst haben und nicht sagen, aus welchem Staat sie kommen. »Ich würde das auch nicht tun.«
Der Flüchtlingsrat Brandenburg fordert, dass alle nach Berlin dürfen. Innenminister Woidke versprach gestern, die Argumente zu prüfen und zu schauen, was sich machen lässt. Jedenfalls sollen die Anstrengungen zur Abschaffung der Residenzpflicht nicht nachlassen. Zunächst möchte Brandenburg die Nachbarländer Sachsen, Sachsen-Anhalt und Mecklenburg-Vorpommern ansprechen, um mit ihnen ähnliche Vereinbarungen wie mit Berlin zu treffen. Später könnte man sich auch noch mit anderen Bundesländern einigen und so schrittweise den Bewegungsradius erweitern.
Es sei zum Beispiel nicht einzusehen, warum die etwa 200 Flüchtlinge im Süden Brandenburgs nicht problemlos nach Sachsen fahren dürfen, meinte Woidke. Dass es unter dem neuen Berliner Innensenator Frank Henkel (CDU) wieder zu Verschlechterungen kommen könnte, befürchtet er nicht. Woidke verwies auf den Koalitionsvertrag von SPD und CDU, wonach in Berlin bei der Behandlung der Asylbewerber nicht hinter das zurückgegangen werden soll, was vorher durch den rot-roten Senat erreicht wurde.
In Brandenburg leben derzeit rund 1400 Asylbewerber. Dazu kommen 1600 geduldete Flüchtlinge. Geduldete sind Menschen, deren Asylantrag bereits abgelehnt wurde, die aber trotzdem vorerst nicht zurück in ihre Heimat müssen. Bei den Herkunftsländern rangiert Vietnam mit Stand vom Dezember 2010 ganz vorn. 644 Flüchtlinge in Brandenburg stammen von dort. Es folgen Afghanistan mit 561 Personen, Kenia mit 429 und Kamerun mit 294. Aus Irak kommen demnach 245 Flüchtlinge.
Das »nd« bleibt gefährdet
Mit deiner Hilfe hat sich das »nd« zukunftsfähig aufgestellt. Dafür sagen wir danke. Und trotzdem haben wir schlechte Nachrichten. In Zeiten wie diesen bleibt eine linke Zeitung wie unsere gefährdet. Auch wenn die wirtschaftliche Entwicklung nach oben zeigt, besteht eine niedrige, sechsstellige Lücke zum Jahresende. Dein Beitrag ermöglicht uns zu recherchieren, zu schreiben und zu publizieren. Zusammen können wir linke Standpunkte verteidigen!
Mit deiner Unterstützung können wir weiterhin:
→ Unabhängige und kritische Berichterstattung bieten.
→ Themen abdecken, die anderswo übersehen werden.
→ Eine Plattform für vielfältige und marginalisierte Stimmen schaffen.
→ Gegen Falschinformationen und Hassrede anschreiben.
→ Gesellschaftliche Debatten von links begleiten und vertiefen.
Sei Teil der solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl. Gemeinsam können wir eine Medienlandschaft schaffen, die unabhängig, kritisch und zugänglich für alle ist.