Für immer jung
Vampire in der Pop-Kultur
Es wirkt vielleicht etwas seltsam, zu Beginn eines Textes über Vampire auf den Titel einer berühmten Graphik von Francisco de Goya (1746-1828) zu verweisen: »Der Schlaf der Vernunft gebiert Ungeheuer«. Immerhin handelt es sich beim medialen Siegeszug dieser Blutsauger doch um ein Pop-Phänomen, um eine Modeerscheinung und nicht um die große Kunst der Alten Meister.
Es gibt etliche Reihen von Vampir-Büchern, Vampir-Spielen, Vampir-Filmen und Vampir-Fernsehserien; Vampire sind so trendy, dass größere Buchhandlungen mittlerweile ganze Regale eigens für diese Sparte unterhalten. Nun mag man sich die Frage stellen, wie es diese Grufties in die Pop-Kultur geschafft haben. Besser aber sollte man fragen, warum erst jetzt. Immerhin spukt das Ungeheuer bereits durch die Unterhaltungsliteratur, seit Gothic Novels die Figur im späten 18. Jahrhundert adaptierten. Geboren aus der uralten Menschheitsfurcht vor Widergängern und Totengeistern, blieb der Vampir aber lange ein Schattengeschöpf ohne besondere Anziehungskraft, für das - bis auf die berühmten Ausnahmen - in einer zivilisierten Welt der Vernunft und des elektrischen Lichts kein Platz mehr war. Zudem war der Vampir wahrlich keine Identifikationsfigur. Nicht nur, dass er tot war - er war auch böse und hässlich.
Doch zum Glück hatte der unsterbliche, weil unlebendige Vampir alle Zeit der Welt, seinen Aufstieg vorzubereiten. Vom Monster wurde er erst zur tragischen Figur, dann zum Antihelden. Er wurde mit Gefühlen ausgestattet, einer Lebensgeschichte, einer Familie, einem Innenleben. Die verdammte Kreatur des Bösen erhielt eine Seele. Am deutlichsten lässt sich diese Entwicklung an der Serie »Buffy - The Vampire Slayer« nachvollziehen. Da verliebt sich die vampirschlachtende Heldin endlich in einen dieser Blutsauger, natürlich in einen ganz lieben. Und da in der Pop-Kultur meist nur schöne Wesen große Gefühle haben, macht auch längst kein entsetzlicher Nosferatu mehr die Nacht unsicher, sondern ein bartloser Jüngling oder eine nächtliche Schöne mit untadeliger Erscheinung und guten Manieren - Wesen, mit denen man sich durchaus in Gesellschaft sehen lassen könnte.
Seine Vorzüge und übermenschlichen Qualitäten behielt der Vampir indes. Zwar gibt es keinen »verbindlichen« Katalog der vampirischen Fähigkeiten, doch sind diese Gestalten generell stärker und schneller als Menschen. Man kann sie mit »normalen« Waffen nicht oder nur kaum verletzen und sie werden niemals krank - jedenfalls leiden sie nicht an profanen Malaisen wie Akne oder Schnupfen. Sie sind, kurzum, immun gegen das Gewöhnliche und etwas ganz Besonderes. Sie altern und sterben nicht und sind, zumindest in der Pop-Variante, für immer jung und schön.
Man mag dem US-amerikanischen Main-stream-Kino und -Fernsehen vieles vorwerfen, ein Gespür für den Zeitgeist und die funktionierende Symbolik aber kann man ihm gewiss nicht absprechen. Die Figur des Vampirs trifft offenbar einen Nerv der Zeit - oder findet, anders gesagt, einen Markt. Die Zielgruppe des Vampirs sind eindeutig Heranwachsende und junge Erwachsene, was durchaus Sinn macht, denn ihrem Wesen nach sind Vampire fleischgewordene Gestalten oraler Sexualität.
Küssen, Beißen und Saugen stehen am Anfang intimer Interaktion. Das der Mutterbrust entwöhnte Menschenkind findet diese Tätigkeiten mit der sexuellen Reifung wieder, von ersten Küssen bis zum Knutschfleck. Die orale Sexualität geht der genitalen voran und scheint speziell den Heranwachsenden daher naheliegender, vertrauter und in gewisser Weise ungefährlicher, weil weniger vereinnahmend und folgenlos in puncto Fortpflanzung. Gleichwohl ist sie sehr intim. In ausgeweiteter Form gehören auch der orale Geschlechtsverkehr und der Kannibalismus zu diesem Kreis, sozusagen als Gipfel der oralen Verschmelzungsfantasie. Dementsprechend bringt der Biss des Vampirs in den Hals des Opfers diesem zwar Blutverlust bis hin zum Tod, ist zugleich aber mit Rausch und Lust, zumeist für beide, konnotiert.
Damit ist der Vampir sozusagen Liebhaber, Säugling und Kannibale zugleich. Das Blut seiner Opfer ist das Einzige, was ihn an seinem Un-Leben zu erhalten vermag. Doch das ist noch nicht das Ende, denn die Blutmahlzeit des Vampirs ist zugleich seine Art der »Fortpflanzung«, weil sie aus seinem Opfer ebenfalls einen Vampir machen kann. Lust und Versorgung, Gewalt und Intimität, Ernährung und Vermehrung sind hier untrennbar miteinander verschmolzen. Den Vampir und sein Opfer vereinen Bande aus Blut. Dabei ist in einer bemerkenswerten Umkehrung der Abhängigkeit das selbst zum Vampir gewordene Opfer seinem Mörder und Erschaffer verpflichtet.
Symbolisch gedacht, haben die bleichen Blutsauger mit Jugendlichen und ihrer seelischen und sozialen Situation mehr gemein als mit jeder anderen Altersgruppe. Deren Trennungs- und Abnabelungswünsche dem sowohl versorgenden als auch vereinnahmenden Elternhaus gegenüber wecken Ängste und Aggressionen zugleich. Sexuelle Kontakte und intime Partnerschaften mit Gleichaltrigen werden zwangsweise ebenfalls ambivalent erlebt. Biologische und soziale Veränderungen führen zu innerer Unruhe und narzisstischen Krisen. Wie alle innerseelischen Konflikte suchen sich diese Ängste und Fantasien nun Ausdruck und Ausweg. Etwa in Sicherheit gebenden neuen Allianzen mit Gleichaltrigen, in Cliquen und Interessengruppen jeglicher Art. Oder im Konsum von Drogen und Rauschmitteln, der ebenfalls eine orale Beziehungskomponente hat. Oder eben symbolisch in der unbewussten Identifikation mit allerlei Heroen und Gestalten, von der Heldenfigur bis zum neuesten »Topmodel« oder »Superstar«. Die Gestalt des Vampirs passt hier geradezu perfekt. Auf kaum eine andere Figur lassen sich aggressive wie depressive Trennungs- und Todesfantasien, Verlustängste und anhaltende Versorgungswünsche, aber auch Träume von der eigenen Bedeutung zugleich so gut projizieren.
Diese Konflikte im Spannungsfeld zwischen Bindung und Autonomie, zwischen Sicherheit und Freiheit haben sowohl innerpsychische wie soziale Komponenten. Im Hinblick auf das Thema scheinen drei soziologische Beobachtungen sehr bemerkenswert. So verlängert sich erstens die Phase des Heranwachsens offenbar seit einigen Jahrzehnten, und zwar in beide Richtungen. Nicht nur, dass die Kindheit immer kürzer wird, die Lernanforderungen steigen und die Pubertät früher einsetzt, auch die Phase des klassischen Erwachsenenlebens mit finanzieller Unabhängigkeit, eigener Wohnung und reifer Partnerschaft beginnt statistisch gesehen immer später.
Der Wandel zur »Wissensgesellschaft« erhöht also die Bedeutung der adoleszenten Situation. Zweitens veränderte sich im selben Zeitraum die Arbeitswelt; befristete Zeitverträge sind in vielen Branchen längst die Regel und Festanstellungen die Ausnahme. Und drittens hat sich die gesellschaftliche Rhetorik still und heimlich vom Traum des ewigen Wachstums zur Beschwörung der Besitzstandswahrung gewandelt. Nicht die Sterne sind das Ziel, sondern die Sicherheit der Rente.
Als Befürchtung zusammengefasst, scheint das zu heißen, dass erstens die Phase des Lernen-Müssens immer länger andauert, um zweitens doch keine soziale Sicherheit zu bringen, die drittens eh nur bedeutete, es nicht schlechter als die Elterngeneration zu haben. Klingt so die hoffnungsvolle Verheißung an die Jugend?
Natürlich ist eine Befürchtung noch nicht eintretende Wirklichkeit, und bewusst würde das auch wohl kaum jemand so formulieren. Nur sind Ängste aber großenteils irrational und unbewusst und suchen sich ihren Ausdruck mehr mittelbar, symbolisch. Als solchen Ausdruck von Angst und Konflikt lassen sich aber sogar psychische Erkrankungen betrachten. Diejenige mit der Sammelbezeichnung Depression ist laut Weltgesundheitsorganisation auf dem Weg zur »Volkskrankheit« Nummer eins in der gesamten westlichen Welt. Die Fantasiegestalt Vampir scheint speziell in einer solchen Phase von Unsicherheit an Reiz zu gewinnen. Unbewusste Ängste treffen hier auf ebensolche Wünsche.
Um auf Goyas Graphik zurückzukommen: Das ungeheuerliche Hirngespinst bietet einen Fluchtpunkt vor der Wirklichkeit. Vampire in der Pop-Variante bieten Vorzüge ohne Verpflichtungen. Sie müssen weder abends ins Bett noch morgens zur Arbeit. Ihr einziger Nachteil besteht eigentlich darin, dass sie nichts hervorbringen als neue Vampire. Narzisstische Krisen haben sie jedenfalls nicht.
Indes ist der Siegeszug des Vampirs noch kein Grund, über den Verfall des Abendlands zu jammern. Natürlich wird auch der fantasiebegabteste Jugendliche später nicht Vampir, sondern Lehrer oder Wissenschaftler, mit Glück sogar ohne befristete Anstellung und Burnout-Diagnose. Die Wirklichkeit siegt über die Fantasie. Doch sollte man sich ernsthaft fragen, welche Art Wirklichkeit solche Symbole so attraktiv macht. Passenderweise in einem Werbespot für eine Bank wurde der Vampir aufs Lächerlichste entzaubert. Sein Opfer - nebenbei: eine reifere Frau - wies die Verheißung ewiger Jugend mit Verweis auf ihre gute Altersvorsorge zurück ...
An dieser Stelle sollte der Vampir sich seiner alten Bosheit erinnern - und fragen, wer hier denn nun Hirngespinste verkauft.
Nicht totzukriegen: die Comic-Figur Vampirella, ab 1969 ursprünglich Heldin einer US-amerikanischen Heftserie in Schwarz-Weiß, schien mit dem Konkurs des Warren-Verlags 1982 ausgedient zu haben. Doch 1991 tauchte sie plötzlich wieder auf, farbiger, nackter und üppiger als je zuvor. Harris Publications, der Verlag, der die Vampirella-Rechte aufgekauft hatte, hauchte ihr neues Un-Leben ein. Seit Anfang 2010 erscheinen die Monatshefte bei Dynamite Entertainment.
Literatur: »Vampire - Mythische Wesen der Nacht« von Joachim Nagel (Belser 2011, 128 S., geb., 29.95 €), einer Kulturgeschichte der Blutsauger, die deren Spuren bis in die antike Sagenwelt zurückverfolgt. Die Texte, in denen Nagel die jahrhundertealte, gleichwohl jedesmal anders geartete Faszination der Dämonen ergründet, sind so unterhaltsam wie kenntnisreich. Der Volksglaube und die lustvollen Ängste der Romantik, Bram Strokers wirkmächtiger Roman »Dracula« und F. W. Murnaus Film »Nosferatu«, Vampire in Oper, Musical und Popmusik - nichts ist hier ausgelassen. Bildern aus Filmen, Comics, Computerspielen gesellt der Band beeindruckende Zeugnisse der Kunstgeschichte bei, so Gemälde von Johann Heinrich Füssli, William Adolphe Bouguereau und Edvard Munch.
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