Diese ewige Angst
»Die verschwundenen Musiker« - ein Buch über deutsche Tonkünstler im australischen Exil
Ein beträchtliches Vorwissen gehört dazu, solch ein Buch zu schreiben. Der Musikwissenschaftler Albrecht Dümling verfügt darüber. Nur dies sei genannt: 1988 ließ Dümling die Ausstellung »Entartete Musik«, von den Nazis veranstaltet 1938, wiedererstehen - eine »kommentierte Rekonstruktion«, die weltweit in bisher über 50 Städte reiste. Ergänzend entstand die CD-Edition »Entartete Musik«, die er wissenschaftlich beriet. Dümling ist Herausgeber der Buchreihe »Verdrängte Musik«, die der Pfau-Verlag Saarbrücken ediert. Sodann ist der Autor Vorsitzender des Fördervereins »musica reanimata«, der sich für NS-verfolgte Komponisten und ihre Werke einsetzt und darüber forscht.
Der Ursprung der Australien-Arbeit fällt in die 90er Jahre. Eine Tagung im Dresdner Zentrum für zeitgenössische Musik zum Thema »Musiker-Exil in Australien« sei die Keimzelle gewesen für das Forschungsprojekt, das im Zentrum für Antisemitismusforschung der TU Berlin begann und mit der National Library of Australia in Canberra kooperierte.
Erstaunlich, was der Autor in »Die verschwundenen Musiker« alles zusammengetragen hat. Ein neues, weithin unbekanntes Kapitel ist aufgeschlagen. Fakten, Zusammenhänge, zahllose Namen darin, individuelle Lebenslagen, eingeordnet in teils tragische poli-tisch-soziale Kontexte. Im Fokus stehen das Leben vorher und danach, der rigide Ortswechsel, Haltungen der Behörden, die jäh veränderte Perspektive der Exilanten, ihre kaputten oder unterbrochenen Karrieren, ihre gestörten Lebensentwürfe, ihre individuellen Ängste, Hoffnungen, Wünsche.
»Musiker«, dieses Wort ist ganz unelitär aufgefasst. Bekanntheitsgrade spielen keine Rolle, Bedeutung, künstlerischer Rang gleichfalls nicht. Das ist recht so. Denn ins Exil gerieten nicht nur die Großen, die Podiumshirsche, die gerühmten Solisten. Es geht ums »Exil der kleinen Leute«, der jüdischen Musiker namentlich, derer, die zuvor in ihrer Heimat Deutschland ihre Arbeit redlich verrichtet hatten. Das Buch redet von Orchestermusikern, egal ob an großen oder kleinen Häusern beschäftigt, von Sängern auch der hinteren Reihen, von Pianisten, Geigern, Bläsern, die sich durchzuschlagen suchten, von Jazzmusikern, Unterhaltungskünstlern mit wenig Aussicht auf Erfolg. Natürlich von Komponisten, auch solchen aus der Film- und Unterhaltungssparte, die von 1933 an Australien glücklich erreichten und deren Initiativen sich im Exil entweder erledigten oder erneuerten. Nicht zu vergessen Musikpädagogen, Musikkritiker, seltener Musikologen.
Ausdrücklich behandelt das Buch auch die Frauen unter den Musikern, oft tapfere, fest an der Seite ihrer Männer, ihrer Familien, ihrer Freunde stehenden Menschen. Ein breites, unbekanntes, hochinteressantes Feld.
Die Schrift unterlässt es nicht, in die Vorgeschichte zu leuchten. Die jüdische Bevölkerung wuchs in den Musikstädten Berlin und Wien rapide, schildert der Autor, und die Ressentiments unter nichtjüdischen Deutschen und Österreichern wuchsen nicht minder. Mit Argusaugen beäugte man den vergleichsweise hohen Stand musikalischer Ausbildung dieser »Fremden«, die aus dem Osten in das Scheunenviertel gezogen waren, während die Vertreter der jüdischen Mittelschichten in den ersten Vierteln Berlins wohnten und ihren Kindern besten Musikunterricht zukommen ließen. Jüdisches Musikleben in Wien Leopoldstadt ist ein extra Kapitel.
Dann 1933 die »Säuberungsstrategien« der Nazis und deren Auswüchse etwa in Berlin, wo der braune Mob mit den »jüdisch verseuchten« Berliner Opernhäusern ins Gericht ging, der Jazz plötzlich zur Unmusik mutierte, Juden aus den Kulturämtern, Staatstheatern, städtischen Orchestern geworfen wurden usf. Die Folge: Viele Betroffene verließen das Land.
Dümling schildert die verschieden Etappen der Auswanderung nach Australien immer an Beispielen individueller Schicksale. Die Gefahren, aus dem angestammten Land zu fliehen, der Kampf gegen die Restriktionspolitik der Behörden, die ewige Angst, die mit lief, spielen ebenso eine Rolle, wie das Flüchtlingsproblem aus australischer Sicht, also die offizielle Einwanderungspolitik.
Die hohen Belastungen, mit denen die Angekommenen zu kämpfen hatten, erörtert das Kapitel »›You will be allright‹: Ankunft in Australien«. Letztlich dem Tode entronnen, verhieß das Leben in der »neuen Welt« zumeist nichts Gutes. Das veränderte Dasein, macht die Schrift deutlich, durchschnitt Laufbahnen, durchkreuzte Lebensperspektiven, trieb in die Isolierung, verhinderte oder verzögerte die weitere Ausübung des Musikerberufs.
Wie viel gleichwohl auf dem fremden Kontinent auch nach 1945 noch möglich wurde, schildern die Schlusskapitel. Viele Mosaiksteinchen fügen sich auch hier zusammen. Das Musikleben hätte in Australien, das ursprünglich von Sträflingen besiedelt worden war, ganz andere Voraussetzungen gehabt als das in Europa - was die Integration der musizierenden Neusiedler zusätzlich erschwert hätte. Allseits spiegelt das Buch die nach dem Kriege entwickelte Einrichtung »Musica Viva Australia«, eine Konzertreihe, die neben klassischem Material gelegentlich auch Neues anbot.
Schließlich fragt der Autor danach, welche relevanten Beiträge die Exilanten zum Musikleben des Kontinents geleistet haben und welche verschiedenen Konzeptionen tragfähig geworden sind. Welche Orchester, Dirigenten, Musiker, Kammersolisten, Sänger, Tänzer, Synagogalchöre, Kammerensembles beteiligt gewesen sind oder sich beteiligten wollten, von denen die einen scheiterten und die anderen einen erstaunlich langen Atem hatten.
Imposant der Forscherfleiß. Über Tausend Anmerkungen hat das Buch, eine schier endlose Literaturliste hängt dran, der Abdruck einer Auswahl benutzter Archive und Sammlungen, die fast durch die Welt führen, ein historischer Bildteil steht in der Mitte und, ganz wichtig, die jüdischen Akteure erhalten in Gestalt von Kurzbiografien Name und Gesicht.
Sei es, dass sich Albrecht Dümling manchmal in Formulierungen vertut, wenn er etwa den schon 1933 hochkriminellen Göring, den Pogromhetzer und Einrichter der ersten Konzentrationslager, mit der Wendung bedenkt, dank seiner hätte die Lindenoper ihre Autonomie noch bewahren können, so nimmt das von dem Gewicht des Ganzen nichts weg.
Albrecht Dümling: Die verschwundenen Musiker. Jüdische Flüchtlinge in Australien, Böhlau Verlag, 444 S., geb., 39,90 €.
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