Wetterleuchten über Rumänien
Proteste richten sich gegen die gesamte politische Klasse
Andrei Stuparu hat schon an den Protesten teilgenommen, die im Dezember 1989 zum Sturz Nicolae Ceausescus geführt hatten. Nun geht der inzwischen 45-jährige Automechaniker wieder auf die Straße. »Als ich 1989 zusammen mit Hunderttausenden Rumänen protestierte, hofften wir darauf, dass sich Rumänien tief greifend verändern würde. Aber geändert hat sich nur etwas für die Politiker und für diejenigen, die gute Verbindungen zur Securitate hatten«, beklagt sich Stuparu. Wer damals gute Verbindungen gehabt hätte, sei innerhalb von zwei Jahren Millionär geworden.
Wie Stuparu gingen in den vergangenen Tagen wieder Tausende im ganzen Land auf die Straße. Sie forderten unter anderem den Rücktritt von Präsident Traian Basescu. In der Hauptstadt Bukarest kam es dabei in der Nacht zu Montag zu den bisher schwersten Auseinandersetzungen. Über 4000 Demonstranten lieferten sich Straßenschlachten mit der Polizei. Dabei wurden rund 60 Demonstranten und vier Polizeibeamte verletzt. Zwölf Läden, drei Bankfilialen und fünf Kioske wurden verwüstet, ein Fahrzeug abgebrannt. Die Polizei setzte Tränengas ein. In 20 weiteren Städten, darunter in der Industriestadt Pitesti 100 Kilometer westlich von Bukarest und in Cluj in Siebenbürgen, verliefen die Proteste dagegen friedlich.
Die politischen Parteien halten sich bisher von den Protesten fern. Die oppositionellen Sozialdemokraten sind ebenso wenig bei den Demonstrationen vertreten wie die Nationalliberalen.
Die regierenden Liberaldemokraten schickten zunächst nur ihren Sprecher Sever Voinescu vor. Erst am Montag nahm auch Regierungschef Emil Boc Stellung zu den Protesten. »Ich verstehe, dass viele Menschen leiden. Aber Gewalt ist nicht akzeptabel«, sagte er mit Blick auf die Ausschreitungen in Bukarest. »Gewalt destabilisiert Rumänien.«
Die Regierung Boc hat in den vergangenen beiden Jahren auf Druck des Internationalen Währungsfonds (IWF) eine rigorose Sparpolitik durchgesetzt. Dabei waren die Löhne der öffentlich Beschäftigten und die Renten beschnitten worden. Dagegen ist der Kampf gegen die allgegenwärtige Korruption kaum vorangekommen. Die Schere zwischen denen, die sich in den Jahren nach Ceausescus Sturz erfolgreich bereichert haben, und den übrigen Rumänen öffnet sich weiter. Die Masse leidet unter einem weiteren Verfall der öffentlichen Dienstleistungen.
Auslöser der derzeitigen Proteste war eine geplante Reform des Gesundheitswesens. Die Regierung Boc wollte private Investitionen anlocken und sah dafür die Erhöhung von Zuzahlungen vor. Doch die sind schon heute hoch. »Nach 38 Jahren im Dienst der Eisenbahnen erhalte ich eine Rente von 680 Lei (170 Euro«, erläuterte der 62-jährige Rentner Matei Avramescu in der Industriestadt Pitesti. »Davon zahle ich schon jetzt fast 160 Lei für Medikamente. Und für jeden einzelnen Handgriff der Ärzte zahle ich dazu.« Obwohl die Regierung ihre Reform am Freitag wieder zurückzog, setzt auch Avramescu seine Proteste fort. »Ich werde demonstrieren, bis Basescu und seine Bande weg sind«, versichert der ehemalige Eisenbahner. »Unter Ceausescu war alles besser.«
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