Rumänien in Aufruhr
Opposition und Gewerkschaften rufen zu Dauerprotest auf
Am Dienstagvormittag rückten die orange-farbenen Reinigungswagen erneut in die Bukarester Altstadt aus. Die kleinen Gassen beiderseits des Bratianu-Boulevards sahen wieder aus wie 1989, in den ersten Tagen nach dem Sturz Nicolae Ceausescus: Schaufenster lagen in Trümmern, Cafés in dem beliebten Ausgehviertel blieben geschlossen, überall gähnten Lücken im Kopfsteinpflaster. »Es ist unser dritter Einsatz seit gestern Abend, und morgen geht’s bestimmt wieder von vorne los«, ahnte einer der Arbeiter.
Über 10 000 Menschen hatten sich am Montagabend in Bukarest und anderen rumänischen Großstädten versammelt, um gegen Staatspräsident Traian Basescu und gegen die drastischen Sparmaßnahmen der Regierung zu demonstrieren. Es war der vierte Protestabend, und die spontanen Kundgebungen zogen trotz Kälte mehr Teilnehmer an als am Wochenende. »Wir fordern den sofortigen Rücktritt des Präsidenten und seiner Regierung, sie haben das Land in die Katastrophe geführt«, ließ die 60-jährige Gabriela Vernat Dampf ab. »Ich habe 35 Jahre als Lehrerin gearbeitet, jetzt muss ich mich für meine Rente schämen und kann nicht mal die Heizungsrechnungen bezahlen. Das ist eine furchtbare Erniedrigung«, empörte sie sich, als die ersten Schneeflocken auf den Universitätsplatz fielen.
»Nieder mit Basescu«, riefen Menschen aller Altersgruppen und sozialen Schichten. Gegen 21 Uhr schlossen sich 100 Studenten der bunten Menge an. »Wir protestieren gegen die Korruption der Politiker und gegen die krasse soziale Ungleichheit«, erklärte der 21-jährige Catalin, der seinen Nachnamen nicht verraten wollte.
Wie schon am Vorabend eskalierte die Gewalt in späteren Stunden, wenngleich nicht so heftig wie in der Nacht zu Montag: Zwischen dem Vereinigungs- und dem Universitätsplatz lieferten sich einige Protestler regelrechte Schlachten mit der Polizei. Steine und Molotowcocktails flogen. Laut Angaben der Ordnungspolizei, hierzulande Gendarmerie genannt, wurden in der Nacht knapp 120 Menschen festgenommen, am Sonntagabend waren es doppelt so viele.
Auslöser der Protestaktionen war ein vorerst gescheiterter Versuch der Regierung, das Gesundheitssystem des Landes grundlegend zu reformieren. Die ursprünglichen Pläne sahen die komplette Privatisierung der staatlichen Krankenkasse und eine weitgehende Neustrukturierung des Krankenhausnetzes vor. Staatspräsident Traian Basescu und seine Demokratisch-Liberale Partei (PDL) wollten das Gesetz im Parlament durchpeitschen, scheiterten aber an der systematischen Opposition von Ärzten, Beamten und Bevölkerung. »Dieses Projekt schafft ein US-amerikanisches Gesundheitssystem, Rumänien würde damit zu einer Ausnahme in Europa«, kommentierte der Politologe Daniel Barbu von der Bukarester Universität. Basescu gab den Plan vorerst auf - doch die Proteste dauern an.
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